Bekenntnisse

Tschüß – und Dank!

Nr. 677 – vom 5. Februar 2018

Jetzt ist es schon über eine Woche her, dass ich zum letzten Mal auf der Bühne stand – zumindest zum letzten Mal mit einem eigenen Programm, denn am 27. Mai steht schon wieder ein Termin mit Gregor Gysi in der „Distel“ in meinem Kalender. Jetzt sitze ich am Ufer eines riesigen Gletschersees in Neuseeland (Lake Tekapo auf der Südinsel) und das alles scheint mir sehr, sehr fern. Doch dieser letzte Abend bleibt eine große Erinnerung. Das Publikum kam zum Schluss kaum zum Sitzen, weil es immer wieder standing ovationierte. Für alle Sprach- und Sittenwächter sei hinzugefügt: Es handelt sich bei solch gestandener Ovationierung nicht um irgendeine ferkelige Perversion, wiewohl ein gewisser Exhibitionismus nicht zu leugnen ist.

Ich habe wahrlich allen Grund, von Herzen dankbar zu sein – auch allen Menschen gegenüber, die mir in anrührenden Mails ihre herzlichen Abschiedsgrüße übermittelt haben. Noch immer empfange ich elektronische Post mit vielen guten Wünschen – meist verbunden mit einer Bestellung der DVD, die am letzten Abend aufgenommen wurde. Allerdings kann diese DVD erst im April ausgeliefert werden, da ich mich mit meiner Liebsten noch ein paar Wochen auf Neuseeland herumtreibe (hier die Bestell-Adresse für Interessenten: bestellservice@martin-buchholz.de). Und gelegentlich werde ich mich auch von hier aus melden. Bis dahin: Auf Wiederlesen!


Howard Carpendale und ich

In den letzten Wochen wurde ich ziemlich häufig interviewt. Einer der Befrager meinte: „Herr Buchholz, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie ohne den Beifall des Publikums leben können. Brauchen Sie nicht als Künstler diesen Rausch des Applauses?“ Ich klärte ihn auf, dass ich für Fall von Entzugserscheinungen vorgesorgt hätte mit einer Erweiterung der Ehepflichten meiner Frau. Beim Notar hatte ich erfolgreich eine Ergänzung des Ehevertrags um eine Klausel durchgesetzt, die meine Gattin verpflichtet, mich beim Frühstück jeden Morgen mit einer frenetisch klatschenden Jubel-Orgie zu begrüßen – nicht unter einer Viertelstunde.

Ein anderer Interviewer gab zu bedenken, dass schon so viele Künstler ihren Rückzug von der Bühne angekündigt hätten, um dann doch rückfällig zu werden. „Wird es Ihnen nicht ebenso ergehen wie zum Beispiel Howard Carpendale?“, fragte er. Ich glaube, er wollte nur meine Allgemeinbildung testen – nämlich, ob ich wüsste, wer dieser Carpendale sei. Zufällig wusste ich es tatsächlich – dank Henning Venske, mit dem ich anderthalb Jahre lang in der Redaktion von „Pardon“ gearbeitet habe und der auch in diesem Jahr aufhören will. Henning schrieb einmal: „Howard Carpendale setzte sich auf einen hölzernen Stuhl und griff zur elektrischen Gitarre. Warum nicht umgekehrt.“


10316 grausame Tage

An diesem Montag ist es soweit. 10316 Tage sind vollendet. So lange stand die Mauer in Berlin. Und so lange ist sie nun weg. Ich habe mir in meinem satirischen Lexikon „Missverstehen Sie mich bitte richtig“ schon früher meine fiesen Hintergedanken zu diesem Thema gemacht – unter dem Stichwort „Mauerfall – ein Trauerfall“. Hier also aus gegebenem Anlass der Wortlaut dieser Traueranzeige:

Da hauste dereinst in einem käseglockigem Frontstädtchen ein kühner, trutziger Stamm von Eingeborenen – stolz auf ihre Einmaligkeit im Weltmaßstab. War doch dieses West-Berlin ein weltweit nicht wiederholbares geographisches Phänomen: Eine Stadt, wo ringsherum nur Osten war. So hat es der Heimatforscher Volker Ludwig schon früh beschrieben.

Umtost und umbrandet vom Roten Meer hielten die dortigen Insulaner als Leuchtturmwärter der Freiheit einsame Wacht. Doch in einer bösen Novembernacht im Jahre 1989 wurden sie urplötzlich ihres sicher ummauerten Biotops beraubt. Schließlich war die Berliner Mauer für die West-Berliner zuvörderst ein antifamiliärer Schutzwall. War doch in Sonntagsreden vor dem Mauerfall immer von den „Brüdern und Schwestern jenseits der Mauer“ die geschwollene Rede. Erst später erfuhr man in meiner traulich ummauerten Frontstadt, wie wichtig das Wörtchen „jenseits“ war. Hinter der Mauer wusste man die östliche Verwandtschaft in sicherer Verwahrung.

Doch selbst wenn wir von diesem brüderlich-schwesterlichen Familiendrama einmal absehen, hatte das abrupte Verschwinden der Mauer einen skandalösen Aspekt, der über die West-Berliner Provinz-Interessen weit hinausweist. Die internationale Kunstwelt trauert noch heute, Jahrzehnte später, um ein architektonisches Gesamtkunstwerk, das einer banausenhaften Schändlichkeit zum Opfer fiel.

Erst heute erkennt man: Diese steinerne Grenz-Ziehung zwischen dem Reich des Bösen und dem Reich der Börsen war das Abbild eines versteinerten Jahrtausends. Ein wohl unwiederbringlicher Höhepunkt der künstlerischen Moderne von existentieller Symbolhaftigkeit. Ein Monument, das einen ultimativen Paukenschlag hineindonnerte in das dramatische Aufeinanderdröhnen zweier Welten. Statt trügerischer Ein-Heit nur trostlosen Ein-Halt gebietend.

Betonistisch karg und kalt in seiner banalen Großartigkeit; bauhausmäßig im Design auf seinen puren Un-Nutzwert reduziert. Brutal in seiner „Anmutung”, wie man das heute nennen würde, obwohl es damals eher eine Zumutung war. Gnadenloser und faszinierender ist so eine Vision wohl niemals konzipiert und realisiert worden in der modernen Kunst. Unerhört und unwiederholbar in seiner dramatischen Wucht. Menschen aus aller Welt reisten an, um teilzuhaben an diesem aufwühlenden Beton-Happening, an diesem einmaligen, fundamentalen Skulptur-Erlebnis der Horizontale.

Sicherlich, es gab einige kritische Stimmen, die mäkelten, dass dieses Mauer-Werk vielleicht doch einen allzu starken Hang ins Kolossale habe, doch diese Stimmen sind heute verhallt. Trauer liegt über gesamtdeutschen Landen, denn jenes nationale Kulturerbe ist spurlos verschwunden, nur noch in Restbeständen verwahrt in den klimatisierten Geheimtresors irgendwelcher Großmogule aus Nippon, eingelagert gleich neben den Rembrandts und den Sonnenblumen von van Gogh. So ging ein nationales Gesamtkunstwerk unwiederbringlich verloren. Wann je, so frage ich, hätten die Chinesen ihre Mauer einfach so an die Japaner verkauft?