Buchholzens
 

Satire-

Letter


Der etwas andere
Kommentar

Martin Buchholz

Nr. 730 - vom 3. Oktober 2024




Identitäten und andere Doppeldeutigkeiten

 

 

Liebe Menschen (w,m,d,ostdeutsch,westdeutsch)! 

 

I.

Der 3. Oktober verjährt sich mal wieder. Heute wird der „Tag der Deutschen Einheit“ rituell abgefeiert. Dieser Tag der vertagten Einheit sah schon bei seiner amtlichen Verkündung ziemlich alt aus. Nun ist er noch 34 Jahre älter geworden und trägt deutlich die Züge von seniler Demenz, was heißt, dass man die gesellschaftliche Realität nicht mehr wahrnehmen will oder kann. Das Einzige, was uns Schizo-Germanen wirklich eint, ist der gemeinsame Sprung in der Schüssel. Das nennt man den germanischen Ur-Sprung. 

 

Eine deutsch-deutsche Identität? Vonwegen! Wir hüben haben unsere Identität. Die drüben haben ihre. Und unsere Wessi-Identität ist natürlich eine der Güteklasse A. Diese Selbst-Überschätzung gilt auch umgekehrt: Viele Ostdeutsche und besonders die AfD-Wähler fühlen sich den links-grün-versyphten Arroganzlern (nebst -innen) aus dem Westen deutsch-identitär weit überlegen. Klaus Kister, der frühere Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, hat dazu Folgendes angemerkt in seiner erfrischend querdenkenden Kolumne (und ich denke, dass die Querdenkerei wieder befreit werden muss von ihrer Corona-verseuchten Perversion):

 

„Die wertende Zuschreibung, welche die eigene Identität über andere Identitäten stellt, ist kein neues Phänomen. Aber sie ist eines der Grundprobleme der 2020er-Jahre. Das Anderssein wird nicht als Beschreibung verstanden und als Aufforderung dazu, das Zusammenleben der verschiedenen ‚Anderen‘ gut, friedlich und tolerant zu organisieren. Im Gegenteil: Die Bereitschaft wächst, das eigene Anderssein als Maßstab für alle zu verstehen und durchsetzen zu wollen.“

 

II.

Nun setzt jede Art von Identität zunächst ein Anders-Sein voraus oder zumindest ein Woanders-Sein. Ich erlebe diese Identitätskrise jeden Morgen, wenn ich im Rasierspiegel von einem morgendlich schlechtgelaunten Fremden angestarrt werde. Gestatten Sie mir zur Erklärung ein wenig Wort-Wurzelei. Der Begriff „Identität“ ist abgleitet von einem alten lateinischen Zeigewort: „idem de!“. Das heiß nichts anders als: „Der da!“. „Identität“ in deutschen Klartext übersetzt ist also eine „Der-da-igkeit“. Dabei deutet einer mit dem Finger von sich selber weg. Und das Konterfei deutet auf ihn zurück. Eine seltsame Be-Deutung. Identität: eine Zweideutigkeit. 

 

Dabei geht es doch bei der Identität eigentlich um das Eindeutige: Die zwei, die sich da etwas be-deuten, wollen ja eins sein. Justament dies ist das Dilemma: Identität setzt zunächst eine Spiegelung voraus. Eine Verdoppelung, die einen Vergleich ermöglicht: „Der da“ ist der Gleiche wie ich. Der da bin ich. Eine Der-da-Ich-Keit. 

Der Vergleich wird zu einer Gleichung mit zwei Unbekannten: Zweimal Ich gleich Ich. Der Verdacht, dass man sich dabei mit sich selbst verrechnet, nagt in allen Ichs.

 

III.

Dazu fällt mir eine alte Geschichte ein. Die ist einem alten Bekannten von mir passiert. Sie haben vielleicht schon von ihm gehört. Er heißt Narziss. Der kam einst im Gebirge an eine Quelle und wollte dort seinen Durst stillen. Doch plötzlich „erwuchs in ihm ein anderer Durst“, wie ein antiker Bestseller-Autor namens Ovid berichtet. Unter sich im klaren Quellwasser erblickt er das Bildnis eines wunderschönen Knaben, in den er sich verliebte (vermeintlich unsterblich), so dass sein Wunsch sehnlicher und sehnlicher wird, diesen Knaben zu küssen und sich mit ihm zu vereinen – eine Ein-Heit mit sich selbst zu sein, der Sinn jeglicher Identitätssuche.

Ein-Heit heißt wörtlich: eine ein-zigartige Erscheinung – etwas, das als einheitlich erscheint. (Das deutsche Anhängsel „-heit“, war einst als Hauptwort geläufig und bedeutete die Erscheinung, das Helle, was heute noch sprachlich durchscheint, wenn die Wettervorsage uns verspricht, dass es heiter wird.)

 

Das Bild von dem Einen, das Narziss vom Quell reflektiert wird, diese Selbst-Reflexion, bringt ihn in leidenschaftliche homo-erotische Wallung – weil er mit sich identisch sein will. Er süchtet nach sich selbst. Selbst-Sucht: der Wunsch nach Identität. Das Dumme – oder wie man meist sagt: das Tragische – für unseren Narziss war nur, dass sein Selbst an einem anderen Ort war, vor ihm im spiegelnden Wasser. Es ist gerade die Kluft zwischen Narziss und seinem Selbst-Bild, seinem Selfie, die seine Liebe so schizophren macht.

 

Das Ende kennt man: die Selbst-Versenkung des Narziss. Tief und tiefer beugt er sich hinunter, um küssend die Lippen des anderen dort unten in der Quelle zu erreichen, der sich ihm seinerseits immer näher begehrlich entgegenstreckt.  

Narziss konnte nur eins werden mit seinem gespiegelten Ich, indem er in sich selbst versank, also in der Quelle ertrank. So löschte er sich aus – und damit zugleich sein Selbst im Spiegel. Ein Doppelmord aus Sehnsucht nach Ein-Heit. Narzissens letzte Worte laut Ovid: „Jetzt sterben wir beide, vereinigt in einem einzigen Hauch.“ Immerhin eine erfolgreiche Wiedervereinigung.

 

IV.

Nun weiß auch ich, dass dieser Knabe ein Grieche war, und Sie fragen sich möglicherweise, was so ein Ausländer mit der deutschen Einheit und Identität zu schaffen haben sollte. Doch das noch immer in sich gespaltene deutsch-deutsche Volk hat während der  Wende Narzissens Spiegel-Spiel eigentlich nur nachgespielt. In der wahnsinnigen Ekstase einer wilden Einheitsnacht wollten Ossi-Ich und Wessi-Ich plötzlich nur noch ein Ichsein. Deutsche Ein-Ich-Keit.

 

Zu DDR-Zeiten war der Fernsehschirm Spiegel der östlichen Sehnsüchte – besonders beim westlichen Werbe-Fernsehen. Durch die betörende Werbung wurde das Begehren übermächtig: „Ich will sein wie die da.“ (Dabei ging es allerdings mehr um das Haben als um das Sein). Wer denkt in so einer Situation noch an das warnende Beispiel des Narziss – nämlich, dass die Hingabe an den Anderen die eigene Selbstaufgabe verlangt und zwar gerade von jenem, der die Vereinigung am meisten begehrt.

Allerdings ist es müßig, hinterher auf ein angebliches Trugbild zu schimpfen, auf das man hereingefallen sei. Das Bild hat nicht getrogen. Es war nur da als Abbild der eigenen Begierde.

 

Es grüßt Sie halb-identisch ein immer noch zwiegespaltener Narr, ein deutscher Semi-Narr, wie immer herzlich und hirnlich,

 

Ihr Martin Buchholz

 

PS. Mein neues Buch „Männer, Macht und Mythen – von Erschöpfern und Erschöpften“ findet hie und da auch schon öffentlichen Zuspruch. Die „Sächsische Zeitung“ in Dresden hat es sehr begeistert rezensiert.

 

Auf Amazon schreibt eine Leserin (und zwar eine, die ich nicht kenne): „Er ist ein Wortakrobat, im positivsten Sinne. Da Wortspiele dieser Art genau mein Ding sind, habe ich in diesem Buch alles gefunden, was ich für ein gelungenes Buch brauche. Zusätzlich werde ich als Frau von ihm gebauchpinselt, was wiederum sehr komisch ist. Herrlich, wie er die Schöpfungsgeschichte aus jedweder Richtung auseinandernimmt. Und nicht nur unsere christliche, sondern auch alle anderen. Unglaublich tiefschürfende Erkenntnisse eines Mannes über seine eigene Gattung. Humoristisch hervorragend und die deutsche Sprache herrlich neugestaltet. Lese- und Seelenfutter!“

 

Und wenn Sie das Buch bei mir mit Signatur erstehen wollen, schicken Sie bitte eine Mail an: kontakt@martin-buchholz.de.  Das geht zunächst nur noch in der nächsten Woche. Vom 17. Oktober an bin ich mit meiner Liebsten für mehrere Wochen im Urlaub. 

Ein Buch kostet 20 € plus 3 € Versandkosten. Bei Bestellungen von zwei und mehr Büchern entfallen die Versandkosten.

 

PPS. Meine Vorstellungen bei den „Wühlmäusen“ im Dezember sind fast ausverkauft. Wegen der großen Nachfrage gibt es weitere Termine bei den „Wühlmäusen“ am 6. und 12. April nächsten Jahres.

Kartenbestellungen für Sonntag, den 6. April 2025, unter:

https://wuehlmaeuse.de/veranstaltung/martin-buchholz-gestammelte-werke/ticket/41357/

Kartenbestellungen für Sonnabend, den 12. April 2025, unter:

https://wuehlmaeuse.de/veranstaltung/martin-buchholz-gestammelte-werke/ticket/41366/