Bekenntnisse

Wie Apoll die erste 

Rating-Agentur erfand

Nr. 542 – vom 27. April 2012
Langsam neigt sich für mich die Saison dem frühsommerlichen Ende zu. Noch viermal werde ich in Berlin mein jetziges Programm „Hier stehe ich. Ich kann auch anders!“ auf die Bretter bringen (am Sonntag läuft die letzte Nachmittags-Vorstellung bei den Wühlmäusen). Im Sommer werde ich mich dann über ein neues Machwerk hermachen. Obwohl noch keine Zeile geschrieben ist, steht der Titel schon in manchen Theater-Programmheften als Ankündigung für Herbst und Winter: „Kassandra, übernehmen Sie!“ wird dieses neue Programm heißen. Nun war Kassandra ja eine Seherin, die auf Horror-Visionen spezialisiert war, wobei sie diesen Horror für ihr eigenes trojanisches Volk prophezeite, während sie den Griechen eine glorreiche Zukunft voraussagte. Mit solcher pro-hellenischen Weissagung würde sie heute bei jeder Rating-Agentur rausfliegen. 

Diese Rating-Berater haben sich ja längst mit ihren self-fullfilling prophecies auf den Untergang der europäischen Südstaaten spezialisiert (wobei Bayern ausdrücklich ausgenommen ist). Die Rating-Hohepriester von Standard & Poor’s (ein schöner Titel für eine Agentur, die die Armut zum Standard in Südeuropa erhebt) haben gerade heute Spanien nochmal heruntergestuft auf der Leiter, die hinunter führt in die ökonomische Unterwelt. Also hinunter in den Orkus, in den die Griechen als Kellerkinder Europas schon lange verbannt sind.

Aber daran sind sie schließlich selber schuld. Das zumindest ist die einhellige pangermanische Volksmeinung. Und in gewisser Weise muß ich dem zustimmen. Denn die heutigen Orakelpriester der Rating-Agenturen können sich stets damit rechtfertigen, daß ihre visionäre Profession ursprünglich von den alten Griechen in Europa etabliert wurde. Denn tatsächlich wurde einst im antiken Delphi das Orakelgeschäft zur ersten großen Blüte gebracht. Der Firmensitz war damals ein berühmter Tempel, in dem der Vorstandsvorsitzende seine prunkvollen Büros hatte. Dieser Chef war ein gewisser Herr Apoll, der sich allerdings selten blicken ließ in seinem Konzerngebäude. Vielleicht hatte er auch ein schlechtes Gewissen, weil er nur durch eine feindliche Übernahme in den Besitz dieser Immobilie gekommen war.

Ursprünglich war dieser Tempel nämlich das Heiligtum der uralten Erdgöttin Gaia. Die hatte von den Übernahme-Bestrebungen des aufstrebenden Jungunternehmers Apoll gehört und ließ vorsichtshalber ihren Tempel von einem ihrer Söhne streng bewachen. Dieser Sohn war ein ziemlich mißgebürtiges Kerlchen, ein greußliches Drachenungeheuer namens Python. Apoll mußte also diesen Python erst einmal besiegen. Schließlich war die Drachen-Abmurkserei schon immer für die Karriere eines jungen Helden förderlich. Ein starkes Heroen-Image war Voraussetzung für eine erfolgreiche Laufbahn in der göttlichen Vorstandsetage. Er drang also in den Tempel ein und zerhackte mit seinem Schwert den Drachen in kleine Stücke – wie es im Schlachtergewerbe der Helden dann auch später gang und gäbe war. Dieses Drachen-Hacksteak warf er dann in einen Spalt, der in der Mitte dieses Tempels klaffte.

Dieser Spalt hatte es mythisch in sich. Er galt als der Hintern der Erdmutter, eben als das Loch, aus dem es lavaglutheiß stinkig herausdampfte und es heftig herausblubberte. Ein geheimnisvolles Vulkangestänker und Quellgemurmel. Diese Quellen-Angaben waren als Verlautbarungen aus dem Schoß der Erdmutter zwar hörbar, aber für irdische, gar männliche Ohren nicht zu verstehen. Deshalb gab es eine Orakelpriesterin namens Pythia, die diese Verlautbarungen verkündete.

Nach der feindlichen Übernahme stellte Apoll diese Pythia sofort in seine Dienste. Die hockte nun breitbeinig über dem Spalt und hatte das unterirdische Geblubber und Gedampfe ins Oberirdische zu übertragen als erste europäische Dampfplauderin. Allerdings redete diese Pythia, schwer umnebelt wie sie war, nur wirres Zeugs, das keiner verstand.

Aus diesem irrsinnigen Gebrabbel erstellten die Beauftragten des Apoll dann ihre Übersetzungen ins Griechische. Das waren wild zusammenphantasierte Spekulationen, doch da die Hohepriester die Deutungshoheit innehatten, galten diese Verlautbarungen als unanzweifelbar. Bei den Prognosen ging es fast immer auch um die wirtschaftliche Zukunft das Gemeinwesens. Natürlich gab’s die nicht kostenlos, sondern nur gegen hohes Honorar. Das Orakelgeschäft hatte Hochkonjunktur.

Wie die reichlich vorhandenen Aufzeichnungen dieser delphischen Weissagungen zeigen, waren die Prophezeiungen dieser frühen Wirtschaftsweisen nichts als die reinste Rating-Raterei, die aber schon den antiken Spekulanten als letzte Wahrheiten galten und die die Geschicke der Kommunen aufs Heftigste beeinflußten. Also viel hat sich da nicht geändert, nur daß diese hingebrabbelten Weissagungen nicht mehr stinkig aus der Arschspalte der Erdmutter furzen, sondern uns als irres, wirres Gedampfe und Gedumpfe aus den Spalten des Wirtschaftsteils anstinken. Die Fürze sind aber grundsätzlich die gleichen. Anrüchige Darmwinde, die ganze Volkswirtschaften hinwegpupen. Denn die Spekulanten meinen noch immer, daß sie den richtigen Riecher haben.