Bekenntnisse

Kassandra, Odysseus 

und Goldman Sachs

Nr. 550 – vom 14. September 2012
Also, diesen Freitag hätte man ruhig im Kalender streichen können. Heute abend muß ich nämlich in Erlangen auf die Bühne zur ersten Voraufführung meines neuen Programms. Das Problem ist nur: Ich habe keins. Mir ist wie üblich mal wieder nichts eingefallen. Der Künstler ist leider geistig verhindert. In letzter Minute versuchte ich noch eine Vertretung für mich zu finden. Ich wollte eine Kollegin bitten, meine Vorstellung zu übernehmen. So habe ich es auch auf die Plakate geschrieben: „Kassandra, übernehmen Sie!“ Blöderweise konnte ich sie nirgendwo erreichen.

Wirklich schade! Diese Kollegin hat immerhin Weltruhm erlangt, wenn auch nicht als Kabarettistin. Die offizielle Berufsbezeichnung hieß damals nicht Kabarettistin, sondern Seherin. Sie machte also nichts anderen als ich. Als Seherin machte sie eben die Augen auf und sah das, was auf ihr Publikum zukam. Das hätte eigentlich jeder sehen können, wenn er nur hätte sehen wollen. Und immerhin ging es damals in Troja um Krieg und Frieden. Aber bei uns war das auch nicht anders. Als es vor etwas mehr als zehn Jahren um den deutschen Eintritt in den Afghanistankrieg ging, stellten sich die meisten auch blind und taub. Deshalb wimmelte es im Bundestag nur so von Friedenstauben, was zur Folge hat, daß die Zahl der Kriegsblinden wieder steigt. Das war ziemlich klar vorauszusehen und an entsprechenden Voraussagen hat es nicht gemangelt, auch auf meiner Bühne. Doch da hieß es nur: Afghanitverstan!

Düstere Prophezeiungen von denen, die da genauer hinsahen, waren jedenfalls nicht gefragt. Kassandra erging es nicht anders. Als Augenöffnerin war sie einfach zu unbequem. Entsprechend waren auch die Rezensionen ihrer Auftritte in den Regierungsblättern. Im „Trojanischen Generalanzeiger“ las man dann, daß diese Seherin offenbar einen Knick in ihrer geistigen Optik hätte. Man würde sich durch solche irren Spinnereien nicht davon abhalten lassen, aufs richtige Pferd zu setzen, und zwar auf das trojanische. Nach diesem Verriß wurde Kassandra von ihrem Publikum nur noch ausgebuht. Irgendwann hat sie dann entnervt auf weitere Auftritte verzichtet. Wahrscheinlich hätte sie sich deshalb auch geweigert, meine Vertretung zu übernehmen.

Vielleicht hat sie auch angenommen, daß es ohnehin keinen Sinn mehr haben würde, vor dem trojanischen Pferd zu warnen. Tatsächlich wäre das auch ein bißchen spät gewesen. Schließlich hat uns die griechische Regierung schon zu Beginn des Euro-Jahrhunderts diesen trojanischen Gaul auf den europäischen Marktplatz gekarrt. Der klapprige Zosse war reichlich mit gefälschten Statistiken angefüttert worden. Für diesen Schmu war allerdings kein listenreicher Odysseus verantwortlich. Nein, das waren schlitzohrige Fremdarbeiter aus dem fernen Amerika, nämlich die US-Bänker von der weltgrößten Zocker-Zentrale Goldman Sachs. Gegen ein bescheidenes Beratungshonorar in Höhe von 600 Millionen Dollar öffneten die ihre Trickkiste für die Griechen. Erst einmal pumpten sie 2,8 Milliarden fiktive Euro in den griechischen Haushalt, damit zumindest scheinbar die Maastricht-Kriterien erfüllt werden konnten. Das war notwendig für das Aufnahmeformular in die Euro-Zone. Und natürlich pumpten sie im Wortsinne – also auf Pump. Im Gegenzug überschrieb Athen der Bank künftige Einnahmen aus dem Betrieb von Flughäfen, Autobahnen und staatlichen Lotterien.

Da die Kreditschulden wieder aus dem Haushalt herausgerechnet wurden, merkte das angeblich keiner, zumal die US-Goldmänner auf absoluter Geheimhaltung bestanden hatten. Niemand sollte wissen, daß sie ihre gierigen Grapscher schon voll in der europäischen Kasse hatten. Nun war das auch kein normaler Kredit mit normalen Zinsen, sondern ein hochkompliziertes Finanzkonstrukt, ein sogenannter Derivat-Swap, in diesem Fall eine hochspekulative Wette auf die zukünftige Zinsentwicklung. To swap heißt auf deutsch: tauschen. Aber wie uns schon der olle Marx lehrt, kann aus einem Tauschwert schnell ein Täuschwert werden. Derivat wiederum heißt eigentlich Ableitung. Hier war es eher eine Umleitung – also die Umleitung eines Kreditflusses über viele dunkle Finanzkanäle hinein in eine stinkende Kloake. Derivate kennt man auch in der Sprachforschung – etwa als Ableitung von einem Hauptwort. Wenn der ursprüngliche Substantiv zum Bespiel „Beschiß“ heißt, ist die verbale Ableitung davon „bescheißen“. Und hinterher ist die Scheiße am Schwappen. Also: Ein schwappendes Derivat oder eben – ein Derivat-Schwapp.

Bei einem solchen Swap schwappt meist eine Flut an Zinsen in das globale Schwimmbecken der Finanzhaie, woraus sich dann eine verheerende Tsunamiwelle an Schulden für den desolaten Kunden entwickelt. Und, schwapp, ist alles Geld weg. Denn wenn man im Spielcasino der großen Finanzzocker gegen die Casino-Betreiber wettet, nennt man das amerikanisches Roulette. In diesem Roulette gibt man sich gewissermaßen selbst die Kugel. Denn egal wie die Kugel auch rollt am Spieltisch, wer am Ende gewinnt, ist immer die Bank. Selbst dann, wenn die sich total verzockt hat und es plötzlich auch für sie nur noch heißt: „Rien ne va plus. Nichts geht mehr.“ Doch wie sagte meine Oma gelegentlich, wenn ich nicht ganz bei Trost war: „Wenn du denkst, es geht nichts mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Diese Spruchweisheit kennen auch die deutschen Ober-Bankster. Als scheinbar nichts mehr ging und sie mit leeren Konten total im Dustern standen, tauchte unversehens am Ende des kurzen Tunnels unsere Kanzlerin auf mit ihrer tranigen Funzel und winkte mit dem Staatssäckel. So kriegten die Banken den vollen Einsatz wieder zurück. Denn wozu zahlen wir schließlich Steuern! Nur deshalb, um diese Spielbanken weiter am Laufen zu halten, weil die, wie jeder weiß, systemrelevant sind. Und ein Systemwechsel ist nicht in Sicht.

Für die fiktiven 2,8 Milliarden Euro an anfänglichen griechischen Spielschulden, setzte Goldman Sachs gleich Zinsen in Höhe von 15 Milliarden Euro in ihre erste Hochrechnung. Und dann wettete die Bank ihrerseits mit neuen Derivat-Phantasie-Produkten auf die kommende Staatspleite Griechenlands. Damit kam die Euro-Krise erst so richtig in Schwung. Goldman Sachs gab übrigens diesem derivaten Delirium einen griechischen Namen. Das Ganze lief unter der Bezeichnung: „Aktion Aiolos“. Womit wir wieder beim alten Odysseus sind. In Homers Odyssee ist besagter Aiolos ein ziemlich windiger Typ. Der war nämlich der Gott der Winde. Da er dem Odysseus zunächst sehr wohlgesonnen war, machte er dem Irrfahrer ein Geschenk. Er überreicht ihm ein Bündel günstiger Winde, die ihn sicher nach Hause schippern lassen sollten. Die Bedingung war allerdings, daß nur Odysseus selbst diesen Windbeutel benutzen durfte. Doch während Odysseus schlief, öffneten seine Begleiter unbefugt das Bündel und entfachten damit einen gewaltigen Sturm. Ähnlich dem Orkan, der entfesselt wurde, als die Griechen unvorsichtigerweise das Derivaten-Bündel von Goldman Sachs öffneten. Dieser Sturm droht mittlerweile das ganze mühsam zusammengeschusterte europäische Haus wegzupusten. Ein Drama, das sich nun überall in den Südstaaten abspielt. Vom Winde verweht.

In seiner Verzweiflung wandte sich Odysseus erneut an den Windgott und bat um mildere Lüfte. Doch der war inzwischen ganz außer Puste, hatte er doch alle Winde fahren lassen. So rief er Odysseus zu: „Hebe dich hinfort, Unglückseliger, denn dich verfolgt der Zorn der Götter.“ Ein Schicksal, das nun auch die unfrommen Hellenen erdulden. Sie werden verfolgt vom höhnischen Fluch der Götter aus den Bankentempeln der Hochfinanz. Wie Sie sehen, ein durchaus neuzeitliches griechisches Drama.

Tscha, und das trojanische Pferd steht weiter auf dem europäischen Marktplatz herum und pferdeäppelt nur noch triste vor sich hin. Und wir alle sind die Veräppelten. Eben angeschissen. Jetzt wissen wir, was es heißt, Euros nach Athen zu tragen.

Kein Wunder, daß Kassandra keine Lust hat, bei so einem Scheißspiel mitzumachen. Wie’s weitergeht? Sie werden’s sehen. Demnächst in Ihrem Theater.