Die Auto-Suggestion
von Freiheit
„Amerikaner bestehen auf den Waffen, die sie tragen; Deutsche auf jenen, in denen sie sitzen.“ So kommentiert die „Süddeutsche“ die geballte Empörung, die in dieser Woche dem SPD-Chef entgegenbrandete. Er hatte in aller sozialdemokratischer Entschiedenheit angedeutet, daß ein Tempolimit von 120 Stundenkilometern – vielleicht, möglicherweise, eventuell, unter gewissen Umständen – „sinnvoll“ sein könne. Und damit hatte sich Gabriel, das sozialdemokratische Erzengelchen, gründlich verflogen – mitten hinein in einen publizistischen Shitstorm.
Freie Waffen für freie Bürger: Diese Baller-Baller-Forderung im hymnisch gefeierten „Land of the Free“ ist für die meisten Bürger hierzulande der Beweis, daß viele Amis eine Mords-Macke haben. Freie Fahrt für freie Bürger: Dieser unumstößliche Glaubenssatz gehört hingegen zum legitimen demokratischen Freiheitsrecht deutscher Mordskerle. Die Auto-Suggestion von Freiheit: Schon vor dreizehn Jahren habe ich mich in einer meiner frühen Kolumnen (Nr. 29) als Feind dieser Freiheit geoutet und stand voll auf der Bremse. Damals war es kein SPD-Chef, sondern ein grüner Minister, der zu einer Zeit, als man noch gar keine Shitstorms kannte, stürmisch in die Latrinen-Parolen der SCHEISS-Zeitung geriet.
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Jürgen Trittin forderte das gesunde Volksbewußtsein zum Showdown heraus – und zwar mitten auf der deutschen Mainstreet, also auf der Autobahn. Ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern würde sechs Millionen Tonnen Kohlendioxyd einsparen, verkündete er. Sofort gab die BILD-Zeitung das Signal, Schröders ungeliebten Hilfssheriff standrechtlich zu überrollen. Der machte einen kleinlauten Rückzieher. Er habe es schon lange aufgegeben, „an dieser Zwangsneurose des deutschen Volkes herumzudoktern“. Wahrlich kein Neurosen-Kavalier.
Von einer Zwangsneurose kann man hier ohnehin nicht sprechen. Diese Neurose ist keine erzwungene, sondern eine durch und durch freiheitliche. Das hat sich auch nach dem Mauerfall im Osten gezeigt: Die freie Fahrt für freie Bürger war offenbar schon immer das geheime Planziel der östlichen Arbeiterklasse. Deshalb hat sich diese Arbeiterklasse gleich nach der Wende selber verschrottet – und ist umgestiegen in die Mittelklasse, zumindest in den Mittelklassewagen. (Von den 40 Milliarden Mark, die die Bundesbank am Tag der Währungsumstellung per LKW gen Osten rollen ließ, sind in den drei Wochen danach 20 Milliarden per PKW zurückgerollt worden – und zwar von den westlichen Autohändlern.) Der ADAC-Chef meinte sogar: "Nach dem Mauerfall hat das Auto bewiesen, daß es ein maßgebliches Stück Freiheit ist." Tscha, soweit kann es kommen, wenn man einen Totalschaden im Hirn hat und sich kein neues leisten kann.
Seither tobt auch im Osten der Mittel-Klassenkampf auf den Straßen. Die Straßenkämpfer können stolz auf ihre sich immer weiter steigernden Erfolge verweisen. Auch im letzten Jahr wurde im Osten wieder ein neuer realkapitalistischer Rekord erzielt, zumindest was die Zahl der Verkehrstoten betrifft. Wie sagte der Mercedes-Chef: „Es findet derzeit eine automobile Revolution statt.“ Der muß es wissen. Schließlich ist er einer der Vorsitzenden des Revolutionskomitees. Und schließlich kann nicht jede Revolution unblutig verlaufen. Wie heißt es so schön in dem alten Revolutionslied: „Vielleicht bist du schon morgen eine Leiche...“
In diesem Freiheitskrieg wird gekämpft mit allen Mitteln. Räder müssen rollen für den Sieg. Auf der Straße ist jeder andere der potentielle Gegner. Da gibt es keine Gnade. Oder, wie es der Kollege Urban Priol mal formuliert hat: Die einzigen in Deutschland, die sich wirklich noch entgegenkommend verhalten, sind die Geisterfahrer.
Eine BMW-Studie hat ergeben, daß bei der Einführung von Tempo 130 auf den Autobahnen etwa 70 Tote jährlich weniger anfallen würden. Und deshalb ist die Auto-Industrie gegen ein Tempo-Limit. Denn auch frisch produzierte Leichen haben ihren automobilen Zeitwert. Zwar wird denen erst mal der Führerschein abgenommen, dafür bekommen sie aber sofort den Totenschein ausgestellt. Die Überführung der Leiche ist schließlich schon im ADAC-Mitgliedsbeitrag enthalten. Das muß man doch ausnutzen: ADAC – der Allgemeine Deutsche Autopsie-Club.
Mag auch der heimliche Bruderkrieg zwischen Ost und West gelegentlich immer noch aufflammen: Die Brüder auf beiden Seiten bilden eine wahrhaft verschworene Gemeinschaft, wenn es um die Auto-Suggestion von Freiheit geht. Nachfolgend lesen Sie den Text der Nationalhymne dieser automobilen deutschen Eidgenossen.
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Wir wollen sein ein einig Volk von Rasern!
In keiner Not uns trennen je vom Gas.
Die Freiheitsbotschaft dröhnt aus den Vergasern:
Als freie Bürger beißen wir ins Gras.
(Refrain)
Mensch, gib Gas, Kerl.
Hol alles aus dem Ofen raus.
Beiß ins Gras, Kerl!
Dann ist der Ofen endlich aus.
Einst wurde der Beton für Ost-Germanen
als Mauer hochkant aufgestellt.
Jetzt wird er breitgewalzt zu Autobahnen
als Todesstreifen einer freien Welt.
Wir liefern unser täglich Soll an Toten,
denn schließlich ist es mehr als wünschenswert,
daß man die hohen Arbeitslosenquoten
in diesem Lande endlich mal herunterfährt.
(Refrain)
Mensch, gib Gas, Kerl...
Die Straße frei. Die Freiheit, sie muß siegen.
Die freie Fahrt ist unser Privileg.
Und wenn da Arbeitslose auf der Straße liegen...
Was kümmert‘s uns?! Die sind doch nur im Weg.
Auch kommt ein Kind schon mal unter die Räder.
Mein Gott, das ist das beste für so‘n Gör.
Wir hätten sonst – und das weiß schließlich jeder –
in Zukunft nur ’nen Arbeitslosen mehr.
(Refrain)
Mensch, gib Gas, Kerl...
Wie viele Rentner sind durch uns verschieden?
Wir haben der Gesellschaft viel erspart.
So rasen wir für den sozialen Frieden.
Die Straße frei. Wir sind auf Friedensfahrt.
Wir geh‘n nicht über Leichen, sondern... eben:
nur was noch lebt, bringt uns zur Raserei.
Wir bringen rasend gern uns selbst ums Leben.
Erst unterm Rasen ist das Rasen dann vorbei.
Mensch, gib Gas, Kerl.
Hol alles aus dem Ofen raus.
Beiß ins Gras, Kerl!
Dann ist der Ofen endlich aus.
Am Sonntag, 26. Mai, in Miller's Studio in Zürich.
Am Donnerstag, 30. Mai, im Forum Peine.
Am Freitag, 31. Mai, im Güterschuppen in Westerstede.
Näheres siehe Tourneeplan