Bekenntnisse

Warum Wolfgang Neuss
Dieter Hildebrandt enterbt hat

Nr. 598 – vom 5. Dezember 2013
Am Dienstag war ich auf einer Geburtstagsfeier: Wolfgang Neuss wurde 90 Jahre alt. Mit etlichen Kollegen – darunter Werner Schneyder, Frank Lüdecke, Arnulf Rating – feierten wir ihn im Berliner „Wintergarten“. Als Überraschungsgast war schon vor Monaten Dieter Hildebrandt eingeladen worden. Wäre er vorgestern tatsächlich erschienen, wäre das für alle eine Riesenüberraschung gewesen. Aber er war wohl verhindert. Neuss übrigens auch.

Ich hatte auf der Bühne eine gute und eine schlechte Nachricht zu überbringen. Die schlechte zuerst: Wolfgang Neuss ist tot – und das schon seit fast 25 Jahren. Die gute Nachricht ist: Er ist nicht totzukriegen. Auch mit 90 hat er sich noch nicht verjährt. Unter seinen einstigen und jetzigen Kollegen ohnehin nicht. Dieter Hildebrandt hat mir mal erzählt, als wir auf Neuss zu sprechen kamen, er, der Neuss, habe ihm, dem Hildebrandt, versprochen, daß er, der Neuss, ihm dem Hildebrandt, nach seinem Tode seinen Geist vermachen werde. Hildebrandt meinte damals, dass er noch immer auf diese Erbschaft warte. Der Geist habe sich nie blicken lassen.

Das lag vielleicht daran, dass Neuss sein berühmtes „Neuss Testament“ nachträglich noch mal geändert hat. Das hat er mir persönlich mitgeteilt bei einer Geisterbeschwörung, bei der ich auf Wunsch von Kollegen die Rolle des Mediums übernommen hatte. Bei dieser Gelegenheit hat er mir gewissermaßen von Geisterhand eine Abschrift seines vorerst letzten Willens zukommen lassen.
Schreiten wir also zur Testamentseröffnung.

Ich, olle Neuss, komm Euch heut‘ abend tele
per Seelen-Telekomm, nee, nicht aus dem Nirwana.
Da war’s auf Dauer doch zu öde für die Neuss’sche Seele.
Sie treibt mich weiter um als postmortalen Mahner.

Ne Abmahnung ist auch der Grund,
weshalb ich hier mal kurz mein Schweigen breche.
Denn Dieter Hildebrandt, der junge Spunt
riß lästernd über mich die Klappe auf, die freche.

Angeblich hätt’ ich ihm mein Wort gegeben,
ich ließe meinen Geist, falls ich ins Gras mal beiße,
auf ihn und in ihn niederschweben,
auf daß er fortan geistvoll sich verneusse.

Nach meinem Tod hat er mich dann verklagt
in übler Nachrede gehässig:
Ich hätte hinterhältig ihm den Geist versagt.
Noch nicht einmal als Toter sei ich zuverlässig.

Nun ja, in diesem letzten Punkte hat er recht.
Ich bin noch längst nicht zuverlässig hin.
Wer das vermutet hat, der kennt mich schlecht.
Die Zeit, die braucht mich, g’rad hier in Berlin.

Es meinte ja Tucholsky, daß die Zeit
verzweifelt nach Satire schreit.
Ich glaub‘, da hat er sich verhört.
Es hat noch keine deutsche Zeit
sich an der Zeitkritik gestört.
Satire war schon immer unerhört.

Der letzte Schrei? Der denier cri?
Stets war’s die Dummheit, die da schrie.

Hier hat man seine Geistesleuchten erst so richtig gern,
wenn sie als Grablichter langsam verlodern.
Die Zeitkritik wird immer erst posthum modern –
dann, wenn die Zeitkritiker modern.

So war Satire immer Post-Moderne.
Sie wird zum letzten Schrei, liegt sie in weiter Ferne.
Das blöde Spiel mach ich nicht mit.
Und so gespenster’ ich morbid
in Eurem Hirn herum als Störenfried.

Auch wenn der Zeitgeist sich um mich nicht reißt,
ich geister’ weiter durch das Zeitgeschehen.
Drum brauch’ ich selber meinen Geist
und hoff’, noch vielen auf den Geist zu gehen.

Daß ich dem Hildebrandt einst meinen Geist versprach –
tscha sorry, Dieter, ich bereu’s.
Als Nachwuchskünstler machtest du ja deine Sach’
auch ohne mich nicht schlecht. Gezeichnet: Wolfgang Neuss.


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Freitag, 6. Dezember, im Podium in Kaufbeuren.
Sonntag, 8. Dezember, bei den Wühlmäusen in Berlin.
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