Bekenntnisse

Oh! Na? Nie!
oder:
Wie Sarrazin zur Leihmutter wurde

Nr. 612 – vom 7. März 2014
Mal wieder tobt ein gewaltiger Shitstorm durchs deutsche Land – genauer: Er fegt durch alle Feuilleton-Spalten der besseren Bildungsblätter. Das Opfer: ein hochgepriesenes schriftstellerisches Schwergewicht, „die Lewitscharoff“, wie Kenner sie nennen. Sybille Lewitscharoff: Überhäuft mit allen derzeit verfügbaren Literaturpreisen (von Bachmann über Kleist und Huch und Fleißer und Raabe bis Büchner) hat sie mächtig herumzuwuchten an der ihr aufgebürdeten Last. Nicht minder wuchtig sind ihre Worte. In einer kämpferischen Sonntagsrede hat sie sich jetzt als anti-onanistische Fundamentalistin geoutet. Prompt geriet sie in den Empörungs-Orkan jener Rezensenten, die ihre Selbstbefriedigung bislang darin gefunden hatten, sie in den höchsten Feuilletönchen zu loben.

Ihre Ablehnung jeglicher geschlechtlicher Handarbeit hat jedoch einen gewichtigen Grund: Ihre Tirade richtete sich zuvörderst gegen jegliche „widerwärtige“, „abscheuliche“, „abartige“ „Widernatürlichkeit“ bei der Menschen-Erzeugung. Bei einem allgemeinen Onanie-Verbot wäre es nämlich auch für spendenfreudige Männer nicht mehr möglich, reproduktiv abzusamen. Auf diese Weise – so die Anti-Masturbations-Domina – blieben „Frau Doktor und Herrn Doktor Frankenstein, den weithin geschätzten Reproduktionsmedizinern,“ keine Spermien für eine Retorten-Zeugung.

In diesem Zusammenhang dachte die Antimasturbantin laut nach über Ganz-Menschen und Halb-Menschen. Zu letzteren zählt sie die Leibesfrüchtchen, die nach künstlicher Befruchtung gereift sind. Dieses „Fortpflanzungsgemurkse“ erscheine ihr „derart widerwärtig, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen...“ Dafür könnten die so entstandenen Halbmenschen natürlich nichts. „Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“

Mit ähnlichen Worten hätte auch ein vollmenschlicher KZ-Kommandant argumentieren können: „Ein Jude kann letztlich nichts dafür, dass er qua Geburt nun einmal ein Untermensch ist. Das kann ich ihm nicht anlasten. Aber meine Abscheu ist in solchen Fällen stärker als die Vernunft.“ Natürlich ist ein solcher Vergleich mit der NS-Geschichte ungeheuerlich, aber Frau Lewitscharoff hatte als Hohepriesterin des natürlichen Lebensborns diese Geschichte selbst redend mit ins Spiel gebracht.

Nun plötzlich gibt es einen „Lewitscharoff-Skandal“. Dabei hat sie doch lediglich ausgesprochen, was jeder denkt. Sagt sie zumindest. Der „Zeit“ erklärt sie: „Ich bin nicht dafür, dass man Gedanken, die überall aufkeimen, ständig unterdrückt.“ Übrigens ist sie sich darin völlig einig mit dem Gedanken-Aufkeimer Thilo Sarrazin, der schon im Titel seines neuesten Pestsellers den „Tugendterror“ beklagt, dem die Lewitscharoff nun zum Opfer fiel. In dieser Anklageschrift phantasiert er sich in den Kopf seines Hauptangeklagten hinein, also in die vermeintliche Gedankenwelt eines Tugendterroristen. So kommt Sarrazin einer gutmenschlich-perversen Hoffnung auf die Spur. Nämlich: „Die moderne Reproduktionsmedizin wird es möglich machen, dass wir uns den Zufälligkeiten und Ungerechtigkeiten der Natur mehr und mehr entziehen: Leihmütter, Keimbahneingriffe, sicherlich auch bald Schwangerschaften außerhalb des Mutterleibs.“ Für Sarrazin das absolute Pfuibaba. Da kämpfen er und Lewitscharoff vereint an derselben Front. Sarrazin ist gewissermaßen die Leihmutter ihres halbwesentlichen Gedankens.

Ein ntv-Interviewer fragte ihn nach der Verlesung dieses Zitats: „Wer bitte denkt denn so?“

Natürlich sei das alles „zugespitzt und ironiegesättigt“, erklärt Sarrazin dem humorlosen Miesepeter. Und auch Frau Lewitscharoff gibt sich nicht minder zuspitzig und ironiesatt: Sie sei nun mal ein „Provokationskaschperle“, schwäbelt sie im ZDF-Morgenmagazin. „Da kommt schon mal so ein scharfer Satz um die Biege.“ Tscha, und schon früher hat so mancher Satz, der scharf um die Biege gekommen war, dazu geführt, dass Menschen um die Ecke gebracht wurden – als lebensunwerte Halbwesen.

Aber natürlich hat Frau Lewitscharoff das alles so nicht gemeint. Und selbst wenn sie das alles so gemeint haben sollte, hat sie das alles heute mehrfach zurückgenommen – nachdem sie noch gestern der FAZ mitteilte, dass sie kein Wort zurückzunehmen habe. Doch inzwischen ist sie überhaupt nicht mehr ihrer Meinung. Woran man sieht, dass der grausame Tugendterror auch sie zur Strecke gebracht hat.

PS: Am Samstag bin ich im „TAK“ Hannover. Ausverkauft! Am Sonntag gibt es (leider) noch etliche Karten, wenn ich um 18 Uhr in der Berliner „Distel“ auf der Bühne stehe. Näheres unter „Tourneeplan“ auf meiner Web-Seite www.martin-buchholz.de