Wie ein Volk vereint
auf einem Provisorium herumkaut
Nr. 621 – vom 30. Mai 2014
Am letzten Freitag habe ich in meiner Kolumne in der Hektik um die Wahlvorbereitungen glatt einen Geburtstag vergessen, sogar ein Jubiläum. Genau vor einer Woche ist nämlich das Grundgesetz 65 Jahre alt geworden. Damit ist es jetzt im Rentenalter und kann endgültig in den Ruhestand geschickt werden. Nun ja, schließlich hatte man es schon am ersten Tag seiner Existenz verabschiedet.
„Alles in bester Verfassung“ war der Titel eines meiner früheren Bücher. Untertitel: „Das Grundgesetz in letzter Lesung“. Dieses Machwerk ist schon lange vergriffen. Umso ungenierter greife ich darauf zurück – gewissermaßen als Geburtstagstags-Lektüre. Hier also aus gegebenem Anlass ein Kapitel aus jenem Machwerk.
+++
Das Grundgesetz kam am 23. Mai 1949 in einem Festakt zur westdeutschen Welt. An jenem Tag ist es in Kraft getreten worden – und zwar feste. Allerdings stimmten die CSU-Abgeordneten damals geschlossen gegen diese Verfassung. Sie waren somit die ersten Verfassungsfeinde. Oder sind sie es klammheimlich immer noch?
Nun sollte es ursprünglich auch gar keine richtige Verfassung sein. So wollten es die Väter des Grundgesetzes. (Übrigens: Es waren insgesamt 63 altväterliche Patriarchen; von den vier Quoten-Müttern des Grundgesetzes redet man selten.) Im Parlamentarischen Rat, wo das Grundgesetz ausgearbeitet worden war, wollte man den Eindruck vermeiden, daß diese westliche Republik schon ein vollständiger Staat sei. Der Rat beteuerte sich in gegenseitiger Rat-Losigkeit unablässig, dass man die Einheit Deutschlands nicht verraten wolle. Zugleich schuf man den westdeutschen Sepa-Rat-Staat.
Nur zur Erinnerung: Damals gab es noch keinen Staat namens DDR, sondern nur die SBZ, eine sowjetisch besetzte Zone. Erst nachdem die West-Zonen sich per Grundgesetz als Bundesrepublik offiziell etabliert hatten, kam es zur Gründung des östlichen Deutschlands – mit der einst noch im Volltext gesungenen Hymne, die von einem kommenden „Deutschland, einig Vaterland“ kündete. Für bundesrepublikanische Ohren war das eindeutig eine Ulbrichtsche „Spalter-Hymne“ aus der „Soffjetzone“.
Eigentlich wollte man auch im Parlamentarischen Rat die deutsche Einheit und schrieb sie als erstes ganz vorne hinein ins Grundgesetz, im vollen zwiespältigen Wissen, dass dieses Grundgesetz kein Fundament für die Einheit sein konnte, sondern dass man damit die Zweiheit zementierte. Im deutsch-deutschen Familien-Drama wurde es somit zur Grundlage der andauernden pangermanischen Schizophrenie.
Doch da nicht sein kann, was nicht sein darf, kam man auf die aberwitzigsten Erklärungen. Die Grundgesetz-Väter beteuerten immer wieder landauf und landab, dass diese Verfassung die Spaltung gar nicht verfestigen könne, weil sie eigentlich gar keine richtige Verfassung sei, sondern nur eine uneigentliche, vorübergehend existente – also eine provisorische.
So lehnte die SPD den Ausdruck „Verfassung“ für das Gesetzeswerk auch ab. Der SPD-Vater Carlo Schmid erklärte: „Lebensordnungen dort schaffen, wo man nur ein Provisorium machen will – das geht nicht.“ Auch der konservative Verfassungskommentator Professor Forsthoff schrieb: „Das Grundgesetz ist nur als Provisorium gedacht.“
Was ein Provisorium ist, kann Ihnen Ihr Zahnarzt erklären. Es wird immer dann eingesetzt, wenn der endgültige Ersatz noch nicht fertig ist. (Ich weiß das, denn ich halte es in diesem Punkt notgedrungen, mehr dental als mental mit Ost-Karat & West-Maffay: „Über sieben Brücken sollst du gehen.“)
Ein Provisorium ist also ein Ersatz für einen Ersatz. Mit so einem Ding muss man vorsichtig umgehen. Richtig demokratisch kraftvoll zubeißen kann man damit nicht. Aber die zugeteilten Portionen an Demokratie fielen ohnehin immer sehr viel kleiner aus als erwartet. Ein satter Happen war selten dabei. Zwar kam eines Tages Willy Brandt und wagte die happige Pro-These: „Mehr Demokratie wagen.“ Trotzdem führte seine Regierung die Berufsverbote ein in der Bundesrepublik. Eine hegelianisch ausgeklügelte Sache: Erst Pro-These, dann Anti-These. Die Synthese ist in diesem Fall die Sozialdemokratie, ein synthetisches Produkt ihrer eigenen Widersprüche – entsprechend dem klassisch klassenkämpferischen Motto: Dialeckt mich doch!
Im alten Grundgesetz war das Provisorium festgeschrieben mit dem Grundgedanken, es im Falle einer Wiedervereinigung durch eine gemeinsame Verfassung aller Deutschen zu ersetzen. So stand es klipp und klar in Artikel 146: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt.“
Vierzig Jahre lang hatten die Alt-Bundesdeutschen also keine Verfassung. Und das wurde jedes Jahr am 23. Mai gefeiert. Keine Verfassung zu haben und sie trotzdem zu feiern – das nennt man Verfassungswirklichkeit. Auch die „Verfassungs“-Richter saßen zu Gericht über etwas, was grundgesetzlich gar nicht vorhanden war. Und die „Verfassungs“-Schützer schützten nichts außer ihrer eigenen grundgesetzlichen Nicht-Existenz.
Die Schizophrenie, wie oben schon diagnostiziert, war der herrschende Maßstab. Doch was heißt: war. In jener Nacht, als die Mauer fiel und alles „Waaahnsinn!“ schrie, ging es mit dem Spaltungs-Irresein erst richtig los. Plötzlich sollte nicht mehr gelten, was vierzig Jahre lang in Artikel 146 als Grundaussage feststand. Einige dissidente Ossis legten zwar in gläubiger Naivität, vertrauend auf die bundesdeutsche Grundgesetzestreue, einen Entwurf für eine gemeinsame Verfassung auf den runden Tisch; doch dort liegt dieser Entwurf wohl immer noch. Man hatte ihn links liegen lassen. Keine Partei im Westen nahm ihn wahr – geschweige denn: auf.
An einem ganz anderen Tisch hatte inzwischen der damalige Minister für das deutsche Innere, Wolfgang Schäuble, einen Einigungsvertrag ausgehandelt – und zwar mit sich selber. Er hatte sich dabei selbst gegenüber gesessen in Form eines Klons namens Krause.
Laut Vertrag wurden die neuen Länder einfach beigetreten. Der alte Bund wurde um ein paar neue Bundesländer erweitert und die Präambel des Grundgesetzes entsprechend umgeschrieben. Damit hatte sich die Sache mit der Verfassung erledigt. Die neue Bundesrepublik tat einfach so als wäre sie die alte geblieben. Damit blieb denn auch alles beim Alten. Eine grundlegende Neuerung immerhin gab es im Grundgesetz: Der Artikel 146 wurde ersatzlos gestrichen.
Ersatzlos schon deshalb, weil man sich im Westen an das Provisorium, also an den Ersatz für den Ersatz, im Laufe der Jahrzehnte gewöhnt hatte. Und so kauen wir weiterhin darauf rum. Irgendwann fällt es einem kaum noch auf, dass die Demokratie immer weniger Biss hat. Ein Bißchen reicht schließlich auch.
„Alles in bester Verfassung“ war der Titel eines meiner früheren Bücher. Untertitel: „Das Grundgesetz in letzter Lesung“. Dieses Machwerk ist schon lange vergriffen. Umso ungenierter greife ich darauf zurück – gewissermaßen als Geburtstagstags-Lektüre. Hier also aus gegebenem Anlass ein Kapitel aus jenem Machwerk.
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Das Grundgesetz kam am 23. Mai 1949 in einem Festakt zur westdeutschen Welt. An jenem Tag ist es in Kraft getreten worden – und zwar feste. Allerdings stimmten die CSU-Abgeordneten damals geschlossen gegen diese Verfassung. Sie waren somit die ersten Verfassungsfeinde. Oder sind sie es klammheimlich immer noch?
Nun sollte es ursprünglich auch gar keine richtige Verfassung sein. So wollten es die Väter des Grundgesetzes. (Übrigens: Es waren insgesamt 63 altväterliche Patriarchen; von den vier Quoten-Müttern des Grundgesetzes redet man selten.) Im Parlamentarischen Rat, wo das Grundgesetz ausgearbeitet worden war, wollte man den Eindruck vermeiden, daß diese westliche Republik schon ein vollständiger Staat sei. Der Rat beteuerte sich in gegenseitiger Rat-Losigkeit unablässig, dass man die Einheit Deutschlands nicht verraten wolle. Zugleich schuf man den westdeutschen Sepa-Rat-Staat.
Nur zur Erinnerung: Damals gab es noch keinen Staat namens DDR, sondern nur die SBZ, eine sowjetisch besetzte Zone. Erst nachdem die West-Zonen sich per Grundgesetz als Bundesrepublik offiziell etabliert hatten, kam es zur Gründung des östlichen Deutschlands – mit der einst noch im Volltext gesungenen Hymne, die von einem kommenden „Deutschland, einig Vaterland“ kündete. Für bundesrepublikanische Ohren war das eindeutig eine Ulbrichtsche „Spalter-Hymne“ aus der „Soffjetzone“.
Eigentlich wollte man auch im Parlamentarischen Rat die deutsche Einheit und schrieb sie als erstes ganz vorne hinein ins Grundgesetz, im vollen zwiespältigen Wissen, dass dieses Grundgesetz kein Fundament für die Einheit sein konnte, sondern dass man damit die Zweiheit zementierte. Im deutsch-deutschen Familien-Drama wurde es somit zur Grundlage der andauernden pangermanischen Schizophrenie.
Doch da nicht sein kann, was nicht sein darf, kam man auf die aberwitzigsten Erklärungen. Die Grundgesetz-Väter beteuerten immer wieder landauf und landab, dass diese Verfassung die Spaltung gar nicht verfestigen könne, weil sie eigentlich gar keine richtige Verfassung sei, sondern nur eine uneigentliche, vorübergehend existente – also eine provisorische.
So lehnte die SPD den Ausdruck „Verfassung“ für das Gesetzeswerk auch ab. Der SPD-Vater Carlo Schmid erklärte: „Lebensordnungen dort schaffen, wo man nur ein Provisorium machen will – das geht nicht.“ Auch der konservative Verfassungskommentator Professor Forsthoff schrieb: „Das Grundgesetz ist nur als Provisorium gedacht.“
Was ein Provisorium ist, kann Ihnen Ihr Zahnarzt erklären. Es wird immer dann eingesetzt, wenn der endgültige Ersatz noch nicht fertig ist. (Ich weiß das, denn ich halte es in diesem Punkt notgedrungen, mehr dental als mental mit Ost-Karat & West-Maffay: „Über sieben Brücken sollst du gehen.“)
Ein Provisorium ist also ein Ersatz für einen Ersatz. Mit so einem Ding muss man vorsichtig umgehen. Richtig demokratisch kraftvoll zubeißen kann man damit nicht. Aber die zugeteilten Portionen an Demokratie fielen ohnehin immer sehr viel kleiner aus als erwartet. Ein satter Happen war selten dabei. Zwar kam eines Tages Willy Brandt und wagte die happige Pro-These: „Mehr Demokratie wagen.“ Trotzdem führte seine Regierung die Berufsverbote ein in der Bundesrepublik. Eine hegelianisch ausgeklügelte Sache: Erst Pro-These, dann Anti-These. Die Synthese ist in diesem Fall die Sozialdemokratie, ein synthetisches Produkt ihrer eigenen Widersprüche – entsprechend dem klassisch klassenkämpferischen Motto: Dialeckt mich doch!
Im alten Grundgesetz war das Provisorium festgeschrieben mit dem Grundgedanken, es im Falle einer Wiedervereinigung durch eine gemeinsame Verfassung aller Deutschen zu ersetzen. So stand es klipp und klar in Artikel 146: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt.“
Vierzig Jahre lang hatten die Alt-Bundesdeutschen also keine Verfassung. Und das wurde jedes Jahr am 23. Mai gefeiert. Keine Verfassung zu haben und sie trotzdem zu feiern – das nennt man Verfassungswirklichkeit. Auch die „Verfassungs“-Richter saßen zu Gericht über etwas, was grundgesetzlich gar nicht vorhanden war. Und die „Verfassungs“-Schützer schützten nichts außer ihrer eigenen grundgesetzlichen Nicht-Existenz.
Die Schizophrenie, wie oben schon diagnostiziert, war der herrschende Maßstab. Doch was heißt: war. In jener Nacht, als die Mauer fiel und alles „Waaahnsinn!“ schrie, ging es mit dem Spaltungs-Irresein erst richtig los. Plötzlich sollte nicht mehr gelten, was vierzig Jahre lang in Artikel 146 als Grundaussage feststand. Einige dissidente Ossis legten zwar in gläubiger Naivität, vertrauend auf die bundesdeutsche Grundgesetzestreue, einen Entwurf für eine gemeinsame Verfassung auf den runden Tisch; doch dort liegt dieser Entwurf wohl immer noch. Man hatte ihn links liegen lassen. Keine Partei im Westen nahm ihn wahr – geschweige denn: auf.
An einem ganz anderen Tisch hatte inzwischen der damalige Minister für das deutsche Innere, Wolfgang Schäuble, einen Einigungsvertrag ausgehandelt – und zwar mit sich selber. Er hatte sich dabei selbst gegenüber gesessen in Form eines Klons namens Krause.
Laut Vertrag wurden die neuen Länder einfach beigetreten. Der alte Bund wurde um ein paar neue Bundesländer erweitert und die Präambel des Grundgesetzes entsprechend umgeschrieben. Damit hatte sich die Sache mit der Verfassung erledigt. Die neue Bundesrepublik tat einfach so als wäre sie die alte geblieben. Damit blieb denn auch alles beim Alten. Eine grundlegende Neuerung immerhin gab es im Grundgesetz: Der Artikel 146 wurde ersatzlos gestrichen.
Ersatzlos schon deshalb, weil man sich im Westen an das Provisorium, also an den Ersatz für den Ersatz, im Laufe der Jahrzehnte gewöhnt hatte. Und so kauen wir weiterhin darauf rum. Irgendwann fällt es einem kaum noch auf, dass die Demokratie immer weniger Biss hat. Ein Bißchen reicht schließlich auch.