Deutsche Geschichte –
auch eine private Geschichte
Nr. 640 – vom 30. Januar 2015
Nach meiner letzten Kolumne über die politischen Auschwitz-Lügen gab es auf Facebook so manchen bedenklichen Kommentar. In einer Mail wurde mir vorgehalten, dass ich doch meine Mutter aus diesem Rückblick auf die deutsche Geschichte besser rausgehalten hätte. Als Sohn sollte man doch etwas mehr Nachsicht üben; es sei immerhin meine Mutter gewesen. Nun ist dieser Abschnitt der deutschen Geschichte auch immer ein Teil meiner persönlichen Geschichte gewesen. Und deshalb will ich hier noch einmal eine solche private Geschichte erzählen. Sie stammt aus meinem Buch „Wir sind, was volkt“ – nach der Wende erschienen und längst vergriffen. Sie trägt den Titel:
Eine deutsche Mutter spricht -
erster Geschichtsunterricht
in einer Weddinger Wohnküche
Muttersprache: das, was meine Mutter sprach. Ich höre stumm das Sprechen meiner Mutter. Ich höre sie mit einer ungewohnten Stimme reden – fast warm, eine Stimme, die nach Wachstuch und Pfefferminze riecht.
Sie sitzt am Küchentisch. Ihre doppelt beringte Witwenhand streicht mit sachter Gebärde über das blasse Grün der Tischdecke. Vom Hof her das letzte Schummerlicht des Tages. In dieses Dämmern hinein spricht sie. Sie ist wieder jung, und sie erzählt sich selber etwas Freundliches aus der Vergangenheit. Sie erzählt von Adolf. Sie lacht leise.
„Ich fand ihn schön, kann man sagen, was man will, darf man sowieso nicht mehr zugeben, doch ich fand ihn wirklich schön – auch mit diesem Schnurrbart, Rotzbremse, hat euer Vater gesagt, aber dem Adolf stand er; sicher, einige haben anfangs gesagt, das sähe komisch aus, naja, weil dieser Chaplin, dieser Komiker, auch so einen hatte, aber das war nur am Anfang, später hat das keiner mehr komisch gefunden, ich sowieso nicht, obwohl ich Bärte eigentlich nicht mag, aber bei ihm sah das nach was aus…“
Sie nickt sich selber zu: „Heute klingt es ja albern, aber ich habe geweint, als die Hildegard Lehmann einmal sagte, das sei doch ein Verbrecher, der Hitler; das war kurz nachdem die SA das Kaufhaus Tietz in der Chausseestraße ausgeräumt hatte, ja, wo heute Hertie ist. Her-Tie, verstehst du, so hieß der Besitzer: Hermann Tietz, ein Jude war das, das waren ja alles Juden vor Dreiunddreißig, die Juweliere, die Rechtsanwälte, die Kaufhausbesitzer, wo man hinguckte: Juden, Juden, Juden.“
Jetzt lächelt sie nicht mehr. Ihre Stimme klingt wieder erziehungsberechtigt: „Als Deutscher hattest du gar keine Chance mehr, irgendwas zu werden – auch bei uns im Krankenhaus, die Chefärzte und Oberärzte, aaaalles Juden, aber als deutscher Arzt kamst du gar nicht richtig hoch, als Lernschwester hab ich das schon mitgekriegt; und der Tietz, das war jedenfalls auch ein Jude, deshalb hat man wohl nach dem Krieg nicht mehr auf den Namen zurückgegriffen, Tietz, das hört man ja doch irgendwie raus, bei Hertie merkt das keiner, außer man weiß es eben. Und dort haben die SA-Leute die Klaviere aus dem Fenster auf die Straße runtergeschmissen, Reichskristallnacht war das, achtunddreißig, richtige Klaviere, das muss man sich mal vorstellen, aber diese SA-Leute hatten keine Kultur, das waren mehr Proleten; und da sagt mir doch diese Bekannte, Hildegard Lehmann, sagt die ganz ungeniert, der Hitler ist ein Verbrecher. Wir waren eingeladen bei ihr zum Geburtstag, und da sagt die das; ich meine, das war ja nicht ohne Risiko für die Frau, wir hätten sie ja anzeigen können, alles konnte man nun auch nicht sagen, aber wir hätten das natürlich nie gemacht, sie angezeigt, meine ich. Sie hat sich jedenfalls ganz schön erschrocken, als ihr das rausgerutscht war und ich auf einmal los weinte.“
Ein Kopfschütteln, verständnisinnig: „Ich habe auf dem Sofa gesessen, und die Tränen liefen mir über die Backen. Ich saß da und habe geheult und geheult und geheult – weil sie gesagt hat, der Adolf sei ein Verbrecher, und weil ich das natürlich auch nicht richtig fand, die Sache mit den Klavieren, und überhaupt – das mit den Juden, die mussten ja dann irgendwann danach diesen Stern tragen, und man durfte die nicht mehr grüßen, das war für uns auch nicht einfach, wir kannten auch ein sehr nettes jüdisches Ehepaar, mit denen waren wir fast befreundet, die wohnten ein paar Häuser weiter - Nummer 5, glaube ich – er war auch Rechtsanwalt, naja, ein jüdischer Anwalt, wie gesagt, andere gab's ja kaum, aber ein sehr, sehr feiner Mensch, sehr sympathisch, Heilmann hieß er, ausgerechnet, darüber haben wir immer ein bisschen gelästert, ein Jude, der Heilmann heißt, aber nett war er wirklich, er hat uns auch mal geholfen, als wir mit dem Hauswirt Ärger hatten wegen der Miete, da hat er uns einen Brief aufgesetzt, ohne das zu berechnen, also dem haben wir doch nie was Schlechtes gewünscht, und dann sollten wir den nicht mehr grüßen, ich hab das natürlich gemacht, immer habe ich ihn gegrüßt, und mir ist nichts passiert, gerade, wo es heute immer heißt, das sei eine totale Diktatur gewesen, aber eines Morgens waren die dann auch weg, verschwunden, und keiner wußte, wohin.“
Nach einer besinnlichen Pause fährt sie fort: „Arbeitslager hieß es, aber mehr wußte man nicht, und Arbeit hat schließlich noch keinem geschadet, sagten wir immer, und das stimmt ja auch, ich hab auch immer gearbeitet, immer, nicht so wie andere Frauen, die faul zu Hause herumsitzen, das hätte ich nie gewollt, auch früher nicht, heute geht es ja sowieso nicht anders – jedenfalls, was ich sagen wollte, ich saß da und heulte, weil ich dachte, davon hat der Führer nichts gewusst, daß die bei Tietz die Klaviere aus dem Fenster schmeißen, denn so was ist doch barbarisch, muss man sich mal vorstellen: richtige Klaviere, das muss dem Adolf irgendwer mal sagen, habe ich gedacht, dann hört sowas auf, und so kam es dann ja auch, als die SA aufgelöst wurde nach dem Röhm-Putsch, ein Hundertfünfundsiebziger war das, der Röhm, nein, das verstehst du sowieso nicht und das brauchst du auch gar nicht zu verstehen, so einer konnte kein richtiger Nazi sein, die gab es sowieso selten, ich meine so richtige Edel-Nazis, die auch heute noch zu ihrer Überzeugung stehen, auch wenn sie sich in Hitler geirrt hatten, denn das mit den Juden war nun wirklich nicht richtig, das hätte nicht sein dürfen, obwohl heute auch vieles übertrieben wird und keiner mehr davon redet, wie auf einmal die Arbeitslosen weg waren von der Straße, die Autobahnen wurden gebaut und es gab keine Verbrecher mehr, da konnte man als Frau auch in der Nacht im Park spazieren gehen und nichts passierte, wir haben ja seit vierunddreißig hier an den Rehbergen gewohnt…“
Ihre Hand wischt über das Wachstuch: „Naja, heute komme ich mir natürlich schön blöd vor, dass ich geheult habe damals – alles wegen Adolf. Mein Gott!“
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Diese Kolumnen gibt es auch als Newsletter – und der kann abonniert werden unter www.martin-buchholz.de. Dort findet sich auch der Tourneeplan. Nächste Auftritte: Heute Abend in Königs Wusterhausen, am Sonnabend bei den "Wühlmäusen" in Berlin. Am 5. Februar in Oldenburg und am 6. Februar in Bremerhaven.
Eine deutsche Mutter spricht -
erster Geschichtsunterricht
in einer Weddinger Wohnküche
Muttersprache: das, was meine Mutter sprach. Ich höre stumm das Sprechen meiner Mutter. Ich höre sie mit einer ungewohnten Stimme reden – fast warm, eine Stimme, die nach Wachstuch und Pfefferminze riecht.
Sie sitzt am Küchentisch. Ihre doppelt beringte Witwenhand streicht mit sachter Gebärde über das blasse Grün der Tischdecke. Vom Hof her das letzte Schummerlicht des Tages. In dieses Dämmern hinein spricht sie. Sie ist wieder jung, und sie erzählt sich selber etwas Freundliches aus der Vergangenheit. Sie erzählt von Adolf. Sie lacht leise.
„Ich fand ihn schön, kann man sagen, was man will, darf man sowieso nicht mehr zugeben, doch ich fand ihn wirklich schön – auch mit diesem Schnurrbart, Rotzbremse, hat euer Vater gesagt, aber dem Adolf stand er; sicher, einige haben anfangs gesagt, das sähe komisch aus, naja, weil dieser Chaplin, dieser Komiker, auch so einen hatte, aber das war nur am Anfang, später hat das keiner mehr komisch gefunden, ich sowieso nicht, obwohl ich Bärte eigentlich nicht mag, aber bei ihm sah das nach was aus…“
Sie nickt sich selber zu: „Heute klingt es ja albern, aber ich habe geweint, als die Hildegard Lehmann einmal sagte, das sei doch ein Verbrecher, der Hitler; das war kurz nachdem die SA das Kaufhaus Tietz in der Chausseestraße ausgeräumt hatte, ja, wo heute Hertie ist. Her-Tie, verstehst du, so hieß der Besitzer: Hermann Tietz, ein Jude war das, das waren ja alles Juden vor Dreiunddreißig, die Juweliere, die Rechtsanwälte, die Kaufhausbesitzer, wo man hinguckte: Juden, Juden, Juden.“
Jetzt lächelt sie nicht mehr. Ihre Stimme klingt wieder erziehungsberechtigt: „Als Deutscher hattest du gar keine Chance mehr, irgendwas zu werden – auch bei uns im Krankenhaus, die Chefärzte und Oberärzte, aaaalles Juden, aber als deutscher Arzt kamst du gar nicht richtig hoch, als Lernschwester hab ich das schon mitgekriegt; und der Tietz, das war jedenfalls auch ein Jude, deshalb hat man wohl nach dem Krieg nicht mehr auf den Namen zurückgegriffen, Tietz, das hört man ja doch irgendwie raus, bei Hertie merkt das keiner, außer man weiß es eben. Und dort haben die SA-Leute die Klaviere aus dem Fenster auf die Straße runtergeschmissen, Reichskristallnacht war das, achtunddreißig, richtige Klaviere, das muss man sich mal vorstellen, aber diese SA-Leute hatten keine Kultur, das waren mehr Proleten; und da sagt mir doch diese Bekannte, Hildegard Lehmann, sagt die ganz ungeniert, der Hitler ist ein Verbrecher. Wir waren eingeladen bei ihr zum Geburtstag, und da sagt die das; ich meine, das war ja nicht ohne Risiko für die Frau, wir hätten sie ja anzeigen können, alles konnte man nun auch nicht sagen, aber wir hätten das natürlich nie gemacht, sie angezeigt, meine ich. Sie hat sich jedenfalls ganz schön erschrocken, als ihr das rausgerutscht war und ich auf einmal los weinte.“
Ein Kopfschütteln, verständnisinnig: „Ich habe auf dem Sofa gesessen, und die Tränen liefen mir über die Backen. Ich saß da und habe geheult und geheult und geheult – weil sie gesagt hat, der Adolf sei ein Verbrecher, und weil ich das natürlich auch nicht richtig fand, die Sache mit den Klavieren, und überhaupt – das mit den Juden, die mussten ja dann irgendwann danach diesen Stern tragen, und man durfte die nicht mehr grüßen, das war für uns auch nicht einfach, wir kannten auch ein sehr nettes jüdisches Ehepaar, mit denen waren wir fast befreundet, die wohnten ein paar Häuser weiter - Nummer 5, glaube ich – er war auch Rechtsanwalt, naja, ein jüdischer Anwalt, wie gesagt, andere gab's ja kaum, aber ein sehr, sehr feiner Mensch, sehr sympathisch, Heilmann hieß er, ausgerechnet, darüber haben wir immer ein bisschen gelästert, ein Jude, der Heilmann heißt, aber nett war er wirklich, er hat uns auch mal geholfen, als wir mit dem Hauswirt Ärger hatten wegen der Miete, da hat er uns einen Brief aufgesetzt, ohne das zu berechnen, also dem haben wir doch nie was Schlechtes gewünscht, und dann sollten wir den nicht mehr grüßen, ich hab das natürlich gemacht, immer habe ich ihn gegrüßt, und mir ist nichts passiert, gerade, wo es heute immer heißt, das sei eine totale Diktatur gewesen, aber eines Morgens waren die dann auch weg, verschwunden, und keiner wußte, wohin.“
Nach einer besinnlichen Pause fährt sie fort: „Arbeitslager hieß es, aber mehr wußte man nicht, und Arbeit hat schließlich noch keinem geschadet, sagten wir immer, und das stimmt ja auch, ich hab auch immer gearbeitet, immer, nicht so wie andere Frauen, die faul zu Hause herumsitzen, das hätte ich nie gewollt, auch früher nicht, heute geht es ja sowieso nicht anders – jedenfalls, was ich sagen wollte, ich saß da und heulte, weil ich dachte, davon hat der Führer nichts gewusst, daß die bei Tietz die Klaviere aus dem Fenster schmeißen, denn so was ist doch barbarisch, muss man sich mal vorstellen: richtige Klaviere, das muss dem Adolf irgendwer mal sagen, habe ich gedacht, dann hört sowas auf, und so kam es dann ja auch, als die SA aufgelöst wurde nach dem Röhm-Putsch, ein Hundertfünfundsiebziger war das, der Röhm, nein, das verstehst du sowieso nicht und das brauchst du auch gar nicht zu verstehen, so einer konnte kein richtiger Nazi sein, die gab es sowieso selten, ich meine so richtige Edel-Nazis, die auch heute noch zu ihrer Überzeugung stehen, auch wenn sie sich in Hitler geirrt hatten, denn das mit den Juden war nun wirklich nicht richtig, das hätte nicht sein dürfen, obwohl heute auch vieles übertrieben wird und keiner mehr davon redet, wie auf einmal die Arbeitslosen weg waren von der Straße, die Autobahnen wurden gebaut und es gab keine Verbrecher mehr, da konnte man als Frau auch in der Nacht im Park spazieren gehen und nichts passierte, wir haben ja seit vierunddreißig hier an den Rehbergen gewohnt…“
Ihre Hand wischt über das Wachstuch: „Naja, heute komme ich mir natürlich schön blöd vor, dass ich geheult habe damals – alles wegen Adolf. Mein Gott!“
+++
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