Bekenntnisse

WELT-EXKLUSIV!!!
Ein Interview mit Rudolf Augstein

Nr. 686 – vom 24. Dezember 2018

Martin Buchholz: Herr Augstein, ich darf diesem kurzen Interview eine persönliche Erklärung voranstellen. Ich bin stolz darauf, dass es mir gelungen ist, Sie für dieses Gespräch zu gewinnen.
Augstein: Das dürfen Sie auch sein. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten.

MB: Mich wundert, offen gesagt, dass niemand beim SPIEGEL auf die Idee gekommen ist, Sie zu befragen.
Augstein: Das wundert mich ebenso. Warum will man mich mundtot machen in einer Situation wie dieser, wo das Blatt in einer schweren Krise ist.

MB: Liegt das  vielleicht daran, dass die berühmte Dokumentations-Abteilung des SPIEGEL Zweifel angemeldet hätte gegen eine solche Veröffentlichung. Immerhin sind Sie schon lange tot – genau genommen seit dem 7. November 2002.
Augstein: Zunächst einmal ein Kompliment für Ihre Recherchen-Genauigkeit. Das hätte man bei der SPIEGEL-Dokumentation nicht so schnell herausgefunden. Nein, ein Augstein-Interview wäre beim SPIEGEL von vornherein unanzweifelbar – egal, in welchem Jahrhundert es stattgefunden hätte.

MB: Kommen wir zum aktuellen Skandal. Im Atrium der SPIEGEL-Zentrale prangt an der Wand ein Motto von Ihnen, das publizistische Ideal, wie uns versichert wird, in seiner knappsten Form: „Sagen, was ist.“ Wie stehen Sie heute zu diesem Ausspruch, der eigentlich ein Anspruch sein sollte?
Augstein: Nun ja, das ist ein Satz aus längst vergangenen Tagen. Und die Vergangenheit ist ja schon längst nicht mehr das, was sie mal war. In den Zeiten der neuen Fake-News-Standards muss sich ein fortschrittlicher Journalismus dieser Entwicklung anpassen. Das Motto müsste heute heißen: „Erdichten, was sein könnte.“

MB: Aber die Fakten…
Augstein: Viele Fakten sind im modernen schreibenden Gewerbe faktisch kaum brauchbar, wenn es ans Schreiben geht. Sie sind oft absolut hinderlich, denn sie können den Erzählfluss zerstören, der einer flott geschriebenen Reportage erst den richtigen Drive gibt. Und darum geht es. Eine spannende Story braucht andere Fakten, die auch die Gefühlswelt des Lesers ansprechen, und da muss man eben der Wirklichkeit mit etwas Phantasie nachhelfen.

MB: Sogar mit Musikuntermalung: „Es stehen dann Sträflinge in Waschräumen und beginnen unvermittelt, Popsongs anzustimmen, oder ein verlorenes Kind geht eine dunkle Straße entlang mit einem traurigen Lied auf den Lippen.“ Der leitende Redakteur Ullrich Fichtner beschreibt die „faszinierende Perfektion“ solcher Reportagen. Szenen, bei denen kein Reporter dabei gewesen sein kann. Und keinen hat das gestört?
Augstein: Wen sollte das stören? Das ist doch wunderbare Lyrik. Immerhin könnte es so gewesen sein. Die Realität ist doch viel zu langweilig und einfallslos. Was wir heute im Journalismus brauchen, sind moderne Märchenerzähler. Gut geschriebene Kurzgeschichten, die der Wirklichkeit zeigen, wie sie sein könnte, wenn sie sich etwas mehr Mühe geben würde.

MB: Und so entsteht „die Bereitschaft, noch die unglaublichsten Geschichten für wahr zu halten, solange sie nur plausibel wirken“. So beschreibt der leitende Redakteur der Märchen-Abteilung beim SPIEGEL seine eigene tiefe Gläubigkeit.
Augstein: Sehen Sie – und auf die Glaubwürdigkeit kommt es an, wobei ein paar reale Fakten so eine Story durchaus aufpeppen können, wenn man’s nicht mit ihnen übertreibt. Immerhin haben auch Sie mit meinem Todestag und mit zwei, drei nachprüfbaren Zitaten ein paar Fakten in diesem Text untergebracht. So dürfte Ihnen für dieses Interview nun alle verfügbaren Journalistenpreise zugesprochen werden. Denn glaubhaft ist es allemal, auch wenn es vielleicht gar nicht stattgefunden hat.

MB: Herr Augstein, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.