Bekenntnisse

Buchholz holzt mal wieder

Nr. 689 – vom 28. März 2019

Jetzt also ist es da, mein neues Buch über die deutsche Verfassung: „Die 70jährige, die man zum Fenster hinauswarf und die einfach nicht verschwand“. Gestern hat es die Druckerei ausgeliefert, und am Freitag stelle ich es im Hamburger „Lustspielhaus“ zum ersten Mal vor. Der Verlag hat den Preis des Buches auf 16 Euro festgelegt (also keine 20 Euro, wie ich in der letzten Kolumne geschrieben habe). Wenn Sie die DVD meines letzten Auftritts dazu bestellen, gibt es beide Erzeugnisse zusammen für 25 Euro – plus drei Euro Versandkosten (schicken Sie einfach Ihre Bestellung per E-mail an bestellservice@martin-buchholz.de). Damit Sie einen Eindruck von diesem Machwerk bekommen, sende ich Ihnen als Leseprobe ein paar Vor-Wörter zu.


1949 – Ein Versuchsballon startet

Ich war sieben Jahre alt, genau genommen war ich sieben Jahre und elf Tage alt, als ich mit einiger Geburtstags-Verspätung einen traumhaft-schönen Luftballon geschenkt bekam. Es war der 23. Mai 1949, ein traumhaft-schöner Maientag. Nur wegen dieses blauen Luftballons kann ich mich so genau an diesen Tag erinnern. Es war der erste Luftballon meines Lebens, und er war so blau, wie nichts in meinem späteren Leben jemals blauer war. Doch vielleicht ist einer der Gründe für die blaue Unauslöschlichkeit meiner Erinnerung auch die Ohrfeige, die mir dieser Ballon dann einbrachte, und der darauf folgende Blues.

Wir gingen an jenem Sonnentag in den Rehbergen im Norden Berlins spazieren. Wir, also meine Mutter und mein Onkel Willy, der mir dieses Wunderding von seinen spärlichen Groschen gekauft hatte, und der Ballon und ich. Der Ballon hatte mich fest an der Strippe. Und als wir am Entengrützenteich entlang flanierten, mitten in dieser Herrlichkeit eines Frühlingstages, ließ der blaue Ballon mich plötzlich los und ich ihn. Und er schwebte davon, höher und höher. Und er wurde immer durchsichtiger und unsichtbarer – bis sich sein Blau dann verlor im Strahlen des wolkenlosen, hohen Frühlingshimmels. Und ich stand da und schwebte mit. Versunken im Blau.

Womöglich würde ich noch heute dort stehen, traumaugenblickend in irgendwelche blaue Ewigkeiten, wenn dieser zauberische, endlose Augenblick nicht schlagartig doch geendet hätte. Eine Ohrfeige von Onkel Willy holte mich zurück auf den Boden der einsichtigen Realitäten. „Zwanzig Pfennig hat mich das Ding gekostet. Und du lässt es einfach los.“

Einschlägig von Onkel Willy belehrt über den Wert der Dinge, stapfte ich niedergeschlagen, aber trotzig weiter. Ein sanft triumphierender Gedanke verband mich mit dem längst entschwebten Ballon. Ich dachte, und ich denke es noch immer: „Aber geplatzt ist er nicht.“

Warum erzähle ich Ihnen das. Deshalb: Es war, wie gesagt, der 23. Mai 1949. Ein Tag, an dem nichts wirklich Weltbewegendes passiert ist, außer zwei Dingen, die mein weiteres Leben beeinflusst haben. Die eine Sache war der blaue Luftballon, der meine frühe Phantasie beflügelt hat. Und die andere Sache war wahrlich keine Nebensache: An jenem 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet – und begründet: Die Grundlage ihrer Existenz war eine grundsätzliche Vereinbarung, nämlich das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“.

Ein Versuchsballon war da losgelassen worden – ein Versuch, wieder ein irgendwie menschliches Deutschland zu schaffen. Ein Ballon allerdings, der nicht ins Blaue hinein davon schweben sollte. Er wollte und sollte sich dennoch deutlich abheben vom damals noch ziemlich braun gedüngten Boden der deutschen Wirklichkeit.

Ein gewagtes Luftschiff in jener Zeit, zumal viele meinten, das sei nur eine Aufgeblasenheit voll heißer Luft.

Ich will die Metapher jetzt nicht weiter strapazieren, doch während ich dies schreibe, summt in meinem Gedächtnishintergrund ein Song aus späterer Zeit: „Would you like to ride in my beautiful balloon.“

Und so sehr ich auch in diesem Buch beklage, wie viele gute, demokratisch-frische Luft inzwischen aus diesem beautiful balloon, dem Grundgesetz, entwichen ist und wie so mancher reaktionäre Furz das Ganze ersatzweise aufbläht, so bleibt mir doch meine blauäugige Hoffnung. Egal, wie entschwebt dieser Ballon auch manchmal zu sein scheint, ich weiß allem Anschein zum Trotz: Geplatzt ist er nicht!


2019 – 70 Jahre später

Viele Jahre sind seit jenem 23. Mai 1949 ins Land gegangen, genau genommen: in die deutschen Länder, die alten und die neuen. (Allerdings sind es gerade die neuen Bundesländer, die zuweilen ziemlich alt aussehen.)

Ich hacke gerade die letzten Korrekturen in die elektronische Tastatur, und eine blasse Wintersonne schaut mir durchs Fenster dabei zu. Ende Januar 2019.

Das Grundgesetz wird am 23. Mai dieses Jahres 70 Jahre alt. Ich bin dann 77 Jahre und elf Tage lang am deutschen Leben. Dieses Grundgesetz habe ich in meinem satirischen Tagesgeschäft in den vergangenen 35 Jahren oft zum Thema gemacht – mehr noch dessen allzu häufige Missachtung auch und gerade durch das Parlament.

„Wir müssen unsere Fenster weit öffnen“, so meinte einst ein Bundestagspräsident, „damit die Menschen draußen im Lande uns auch hören.“ Leider geschah das Unerhörte, dass durch die weit geöffneten Fenster nur selten ein frischer Wind herein blies; nein, es wehte oft nur alter populistischer Mief und hysterisches Geschrei der Menschen draußen im Lande in den Plenarsaal — besonders schrill und ohrenbetäubend bei der gnadenlosen Hetze gegen das Asylrecht. Um das Volk, lies: den fremdenfeindlichen Mob zu beruhigen, warfen viele Parlamentarier nicht zum ersten Mal ein wichtiges Grundrecht zum offenen Fenster hinaus. Teile der Verfassung warf man gleich im hohen Bogen hinterher – raus aus dem Hohen Hause. Wie viele Artikel der Verfassung wurden so als vermeintlich veraltete Ramschware verworfen und verschleudert.

Und dennoch: Diese zum Fenster rausgeworfene Verfassung, diese Siebzigjährige, wollte partout nicht verschwinden. Sie humpelte trotzig und geschunden immer wieder zurück in die unheiligen Hallen und stellte sich neu der bundesrepublikanischen Wirklichkeit.

1989 habe ich darüber mein erstes Buch geschrieben. Für die jetzige Neufassung habe ich zusätzlich mehrere meiner gestammelten Werke durchforstet und auch hie und da bei mir selber abgeschrieben. (Ich kann mir solche Plagiate erlauben. Schließlich ist dies keine Doktorarbeit.)
Das vor Ihnen liegende Machwerk, in halbwegs deutscher Sprache verfasst, ist gewissermaßen eine Verfassung über die Verfassung – also eine Verfassung hoch zwei. Somit handelt es sich um eine satirische Überhöhung, eine bewusste Überspitzung, um meine Kritik und meine Hoffnungen zuzuspitzen auf den Punkt, gelegentlich auch auf die Pointe.

In der Hoffnung, dass Sie als mein Lesevolk mich nicht in Stich lassen: Hier also das Grundgesetz in meiner (und Ihrer) vorerst letzten Lesung.