Wo, bitte, geht es hier zur Mitte?
Nr. 695 – vom 29. Oktober 2019
Entschuldigen Sie: Haben Sie zufällig irgendwo die politische Mitte gesehen? Eine derzeit mal wieder offene deutsche Frage. Um genau zu sein: Eine mitteldeutsche Frage, bei der es offenbar um die Wurst geht – noch genauer: um die Thüringer Bratwurst, die bekanntlich zwei zipfelige Enden hat und dazwischen eine Mitte, die sich dicke tut. Bloß, dass sich diese Mitte inzwischen offenbar verdünnisiert hat. Das jedenfalls war das allgemeine Klagelied der meisten Thüringer Polit-Würstchen, die sich in heftigen Wahlkrämpfen wanden:
Sag mir, wo die Mitte ist? Wo ist sie gebliehieben?
Sag mir, wo die Mitte ist? Was ist gescheh’n?
Immer wieder das gleiche Gesabbel: Die Wähler hätten sich angeblich von der politischen Mitte verabschiedet und eine Zuflucht „an den Rändern“ gefunden. Wenn man in diesem thüringischen Mittel-Deutschland, wo die Mittel mäßig sind und die Mittelmäßigkeit umso unmäßiger, nachfragt: Wo, bitte, geht’s hier zur Mitte? – dann ist die Antwort des dortigen Möchtegern-Gauleiters geradeheraus: „Immer rechts halten, dann noch mal rechts rum, und von da aus dann ganz rechts!”
Die Links-Partei hingegen lümmelt dort schon längst mitten auf dem vielbeschlafenen bürgerlichen Lager. Ein ostwestlicher Diwan, auch wenn die CDU immer noch die Links-Partei als den östlichen Iwan satanisiert. Doch die Ramelowsche Staatsmännelei ist sowas von mittig, dass die CDU in Thüringen dagegen nur noch als Randerscheinung wahrzunehmen ist.
Freude hingegen bei der SPD: Sie hat in Thüringen sehr viel sicherer die Fünf-Prozent-Hürde genommen als die Grünen und die FDP. Doch wenn bei den Sozialdemokraten tatsächlich die schwarze Null den Vorsitz übernimmt, wird diese Völkchen-Partei wohl endgültig im Nirwana verscholzen. Dann hat sich die SPD endgültig in der Urne verascht – und übrig bleibt die reine Leere.
Apropos: Die Leere ist ja das eigentliche Kennzeichen der Mitte.
Das Nichts – eine metaphysische Erscheinungsform. Um aber in Erscheinung zu treten, um überhaupt wahrgenommen zu werden, braucht das Nichts eine Umgrenzung. Es braucht einen Rand. Dann nennt man es ein Loch, wie uns Tucholsky lehrte. Ein Loch ist also ein Nichts mit etwas drum herum. Soll heißen: Jedes Loch braucht einen Rand, wobei die meisten Löcher den Rand einfach nicht halten können. Sie kriegen den Rand nicht voll mit ihrem Gelaber über „die Ränder“. Das ist das allgemeine Loch-Prinzip: Außen herum ist der Rand – und in der Mitte ist das Nichts.
Womit die Frage, wo die politische Mitte abgeblieben sei, wohl ausreichend geklärt wäre.
Als die alten Nazis
noch neo waren
Ein paar Tage vor der Thüringen-Wahl bin ich in der beschaulichen und eigentlich zauberhaften sächsischen Kleinstadt Augustusburg am Rande des Erzgebirges aufgetreten mit einer kabarettistischen Lesung. Es ging um das Grundgesetz und um die letzte Landtagswahl in Sachsen. Und das hörte sich dann so an. Sie lesen den Originalton:
Als das Grundgesetz in Kraft getreten wurde, wollte das westdeutsche Volk die frohe Botschaft gar nicht hören, die ihm da widerfahren sollte. In seiner übergroßen Mehrheit wollten die Deutschen in West wie Ost von irgendeiner Demokratie nichts wissen.
War doch letztlich die Demokratie daran schuld, dass man nun im Jahr 1949 in einem zertrümmerten Jammertal sein Überleben fristete. Denn hätte es Ende der zwanziger Jahre keine Demokratie gegeben, wäre die Nazi-Partei auch nicht gewählt worden. Ein paar Wählerdaten gefällig – nur zur Erinnerung, wie harmlos alles anfangen kann?
Die NSDAP bekam zum Beispiel 1928 gerade mal 2,6 Prozent der Wählerstimmen. 1930 waren es schon 18,3 Prozent. Im Juli 1932 hatte die Nazi-Partei alle anderen überholt mit 37,2 Prozent. Und dann dauerte es nur noch ein paar Monate bis zur Machtübernahme, die eigentlich eine Machtübergabe war durch konservative Koalitionäre. Damit war Hitler ganz demokratisch an die Macht gekommen. Danach konnte man sich weitere Wahlen sparen, weil die Zustimmung im Volk ohnehin die absolute Mehrheit weit überschritt.
Kann man es also dem deutschen Volk verdenken, dass es sich hinterher mehrheitlich vor sich selber fürchtete? Wie Werner Finck mal sagte: Das Volk hatte so lange „Heil“ gebrüllt, bis nichts mehr heil geblieben war.
An seinem Unheil wollte das Volk hinterher jedoch nicht schuld gewesen sein. Gleich nach dem Krieg hatte sich das deutsche Volk selbst entnazifiziert in einer kollektiven Unschuldsvermutung – und sich zugleich von jeglicher Kollektivschuld freigesprochen.
Nebenbei: Die Leute, die damals 1930 mit 18,3 Prozent die NSdAP gewählt haben und 1932 mit 37,2 Prozent, das waren keineswegs alle überzeugte Nazis. Das waren in der Mehrheit anständige brave deutsche Bürger – zumindest in der Selbsteinschätzung. Die hatten nur was gegen die angebliche Bedrohung durch die Juden – und besonders groß waren die Wahlerfolge der NSdAP in den ländlichen Gebieten, wo es kaum Juden gab wie hier im Erzgebirge.
Nun schreiben wir das Jahr 2019. Und die Hetze funktioniert auch heute wieder. Bei der Landtagswahl in diesem Jahr hatte die AfD hier in Augustusburg 30,6 Prozent der Wählerstimmen. Da fehlen nur noch knapp 7 Prozent im Vergleich zu den Wahlerfolgen der Rechten im Jahr 1932. Und immer wieder wird mir gesagt, dass auch die Wähler der AfD in der Mehrheit brave anständige deutsche Bürger seien, die man nicht als Sympathisanten von Neonazis abstempeln sollte. Das sind doch alles harmlose, freundliche Nachbarn. Die haben eben nur Angst vor diesen vielen Ausländern, vor diesen Artfremden, auch wenn in den ländlichen Gegenden wie hier im Erzgebirge oft kilometerweit kein einziger Ausländer zu sehen ist. Heute hetzt man gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes. Bei den Nazis hieß das entsprechende Todschlagwort nicht Islamisierung, sondern Überjudung.
Nebenbei: Die Grenzen zwischen Antiislamismus und Antisemitismus sind fließend. Ein Reporter fragte die Mutter des Attentäters von Halle: „Was hat ihr Sohn eigentlich gegen Juden?“ Die Antwort der Mutter: „Er hat ein falsches Vokabular. Er hat nix gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen. Wer hat das nicht?“
Ja, wer hat das nicht in diesen AfD-Kreisen? Diese Wähler sind doch garantiert keine Antisemiten „in dem Sinne“, die haben eben nur was gegen Juden und gegen das Weltjudentum, das bekanntlich, wie jeder Plattkopf weiß, hinter der finanziellen Macht steht. Das „raffende jüdische Kapital“, so hieß es bei den Nazis.
Wie mörderisch auch die Konsequenzen sein mögen: Schon heute sprechen sich die AfD-Wähler vorsichtshalber frei von jeder Schuld – wie ehedem in einer kollektiven Unschuldsvermutung.
Die meist aus dem Westen zugereisten AfD-Führer wie der thüringische Heilsbringer Adolf Höcke (der richtige Name ist der Redaktion bekannt) warben auf ihren Wahlplakaten in Deutschlands Osten mit dem Slogan: „Vollende die Wende!“ So wird der Begriff der Wende mit einem erschreckend alten Sinn erfüllt: Eine Wende bedeutet doch, dass man sich umdreht. Das heißt für viele: Man kehrt einer demokratischen Zukunft den Rücken zu, und plötzlich hat man wieder eine rückwärts gewandte Perspektive vor sich, von der wir geglaubt haben, dass sie schon lange der Vergangenheit angehört hätte.
Auch wenn wir heutigen Deutschen nicht verantwortlich für diese Vergangenheit sind, so sind wir doch befragbar: Was tun wir und was haben wir getan und was werden wir tun, um solche Vergangenheiten in Zukunft zu verhindern?
„Wehret den Anfängen!“ So hat man uns gemahnt. Aber diese Mahnung kam, wenn überhaupt, mit Verspätung an. Da waren die Anfänge schon längst gelaufen. Heute kann es nur heißen: Wehret den Fortsetzungen!