Sahra, let the party start
Nr. 708 – vom 25. März 2023
Jetzt mach aber langsam mal hin, Sahra! Wie lange soll ich denn noch warten! Sehnsüchtig erwarte ich den Tag, wo du endlich deine eigene Partei gründest und all deine Wagenknechte und Wagenknechtinnen mitnimmst! Oder bist du in Terminnot, weil du mal wieder mit deinen vielen 10.000-Euro-Vorträgen in der Schweiz und Deutschland den Finanzhaien erklären musst, wie sich die kleinen Fische so fühlen. (Keine Kritik meinerseits: Ich finde es faszinierend, wie du als gelegentliche Sozialistin das Großkapital hunderteuromäßig peu-a-peu enteignest.)
Dennoch: Wo bleibt die neue Partei, die (endlich mal wieder) immer recht hat? Mit dieser Parteigründung würdest du auch deinem Oskar einen großen Gefallen tun. Der braucht schließlich dringend einen neuen politischen Verein, in den er eintreten kann. Vielleicht würde er sogar eine Weile bleiben. Er benutzt ja jede Partei nach seinem Eintritt irgendwann wie eine Bedürfnisanstalt, wenn er auf einmal ganz dringend muss, und zwar austreten.
Für die "Linke" wäre die Lage zwar dramatisch, weil sie ihren Fraktions-Status im Bundestag verlieren würde. Aber sehr viel dramatischer als jetzt kann die Situation auch nicht mehr werden. Schließlich hast du, Sahra, genügend Wähler bei den letzten Wahlen an der Urne zurückschrecken lassen. Und so dämmert auch dort immer mehr die Erkenntnis: Lieber ein Ende ohne Sahra als eine Sahra ohne Ende!
Ein Vorteil wäre immerhin, dass wahrscheinlich abertausende von jetzigen AfD-Wählern, den Umfragen zufolge besonders im Osten, die Partei ihrer Wahl wechseln würden, um einer wagenknechtschen Alternative für Deutschland ihre Stimme zu geben. Das deutet sich schon länger an: Eine putineske Querfront ist da im Entstehen. Genauer: Eine Kreuz-und-Quer-Front, wobei das Kreuz allzu häufig auch noch einen Haken hat – und bei dem einen bleibt es meist nicht. (Der Neo-Nazionalist Jürgen Elsässer machte dich, Sahra, sogar zum Covergirl auf dem Titel seines Ultrarechts-Magazin "Compact" mit der Schlagzeile: "Die beste Kanzlerin – Eine Kandidatin für Links und Rechts".)
Ich weiß, Sahra, unsere Nicht-Beziehung war schon immer irgendwie toxisch (so nennt man das wohl heute, wenn man sich gerne mal angiftet). Verzeih, wenn gerade ich dich hier drängele, endlich die Party zu eröffnen. Ich versichere dir, dahinter steckt bei mir keinerlei privat-politischer Eigennutz, denn ich würde deine Partei garantiert nicht wählen. Und du willst doch gewiss auch nicht, dass sich die falschen Leute bei dir einschleichen. Also, in meinem Fall kannst du da ganz beruhigt sein.
Woher soll ich wissen,
was ich nicht mehr weiss
Neulich kam in einer Runde von Freundinnen und Freunden die Frage auf, ob man als Autor heute noch Texte produzieren könne, die ein gewisses Vorwissen bei der lesenden Kundschaft voraussetzen würden. Eine Freundin erwähnte George Bernard Shaws Theaterstück "Pygmalion", das Drama über den selbstherrlichen Sprachwissenschaftler Professor Henry Higgins. Aufgrund einer Wette will der eine arme Blumen-Verkäuferin namens Eliza Doolittle zu einer Lady der vermeintlich besseren Gesellschaft umformen – als ein willfähriges Produkt seiner Schöpfer-Arroganz (na klar, darauf basiert das Musical "My fair Lady"). Shaws Stück wurde im Jahr 1913 uraufgeführt. Die Uraufführung fand in Wien statt, natürlich in deutscher Übersetzung. Englische Bühnen verweigerten eine Aufführung, weil Eliza "exzessiv schmutzige Wörter" benutze, hauptsächlich das Adjektiv "bloody". (Die Cancel-Culture kam schon damals meist von rechts.)
Doch zurück zum eigentlichen Thema unserer Diskussionsrunde: Shaw konnte davon ausgehen, dass "Pygmalion" als namentliche Anspielung im Titel seines Stücks sofort verstanden wurde. Das Wissen um die griechische Mythologie mit ihren vielen Protagonisten (nebst -innen) gehörte damals zur Allgemeinbildung des Theaterpublikums. (Pygmalion, eine Figur aus Ovids wundervollen "Metamorphosen" war ein Bildhauer, ein erklärter Frauenfeind, der die Statue einer nackten Schönen aus einem Marmorblock hervormeißelt – von einer unbekannten Sehnsucht getrieben, ohne eigentlich zu wissen, was er da tat. Er verliebt sich sofort in seine leblose Schöpfung, in das Abbild seiner Fantasie – eben, weil dieses Geschöpf ein vollkommenes Produkt seiner Schöpfung ist und kein eigenständiges Wesen.)
Sie merken schon an dieser Klammer-Erklärung, dass ich nicht davon ausgehe, dass jede oder jeder, die oder der dies liest, auf Anhieb wüsste, um wen es sich bei diesem Pygmalion handelt. Kein Grund, sich zu genieren ob dieses Nicht-Wissens. Auch Allgemein-Bildung ver-bildet sich allgemein. Will sagen: Sie verändert sich ständig im Laufe der Jahrzehnte, allen Gymnasialpaukern zum Trotz.
Sicherlich, auch ich finde das zuweilen schade. Wenn ich etwa in früheren Bühnen-Programmen zum Beispiel Goethes "Erlkönig" oder Rilkes "Herr, es ist Zeit" zur Grundlage von Parodien auf aktuelle Geschehnisse gemacht habe, bin ich selbstverständlich davon ausgegangen, dass die meisten im Publikum zumindest noch eine dunkle Ahnung davon hätten, was ich da parodiere. Sonst hätte der Witz an der Sache nicht funktioniert. Heute wäre ich mir dieses (nahezu) allgemeinen Verstehens nicht mehr so sicher.
In der geselligen Runde, wo wir dieses mögliche Nicht-Verstehen aufgrund eines möglichen Nicht-(Mehr)-Wissens diskutierten, schwelgte ich – vielleicht etwas rotwein-durchtränkt – in Erinnerungen an meine kabarettistischen Anfänge in den späten Nachwehen der 68er-Zeiten. Damals waren linke Theorie-Debatten noch schwer im Gange. Jeder beharrte auf seinem Dogma-Tick. Zu der Zeit schrieb ich als Reaktion darauf ein anti-dogmatisches Programm mit dem Titel: "Freud mal Fromm geteilt durch Marx", das mehrere hundert Mal sehr erfolgreich über die Bühnen lief. (Ziemlich kleine Bühnen, zugegeben, aber dafür ziemlich lange.)
Nostalgisch angeschwipst seufzte ich: "Würde ich heute ein Programm mit einem solchen Titel ankündigen, würde kaum jemand verstehen, was das bedeuten soll. So könnte ich gleich in einer Telefonzelle auftreten." Da meldete sich Hendrik, der etwa zehnjährige Sohn einer Freundin, der mit am Tisch saß, zu Wort:
„Und was ist eine Telefonzelle?“
Tscha, as time goes by! Oder auch: Tempora mutantur. Oder auf deutsch: Die Zeit ist eine einzige Mutation.