Bekenntnisse

Von schlabberschleimigen Küssen
und sumpfigsabbernden Flugblättern

Nr. 716 – vom 2. September 2023

I.
Ein freundliches Hallo Ihnen, liebwerte Leserin, geschätzter Leser, die Sie mir und dieser mehr als zweifelhaften Kolumne nun schon zum siebenhundertundsechzehnten Mal Asyl gewähren in Ihrem Email-Briefkasten.

Mein Web-Master, der mich internettig verbreitet, ist wieder im Lande, also Ende der Sommerpause. Mittlerweile ist nicht viel passiert, das einer besonderen Aufregung bedürftig gewesen wäre. Auch wenn es Leute gibt, zu deren Überlebensnotwendigkeit es gehört, sich über alles und jedes aufzuregen. Ich fand und finde meine Überlebenszeit als zu wertvoll, auf dass ich sie nicht überfülle mit dem alltäglichen Erregungs-Müll.

Ich halte es statt der permanenten Aufregung mehr mit einer zeitweisen Anregung durch Lektüre, Filme, Kunst und Gespräche mit guten Freunden (und ja, so guten Freundinnen). Auch ich rege mich gelegentlich auf, aber nur wenn die Erregung mir wirklich notwendig erscheint. Eine Erregung, die dann zu einem Sich-Regen führt, zu einem Sich-Aufrichten, zu einem Sich-Bewegen, zu einem protestierenden Einschreiten. Und Einschreiten ist wohl die wichtigste Art des Vorwärts-Kommens für Menschen, die den aufrechten Gang noch immer für eine menschenmögliche Bewegungsform halten.

II.
Okay, um diese Kolumne am Laufen zu halten, rege ich mich jetzt mal künstlich auf. Vom Verbrecherfoto, dem mugshot, des genialen Ex-(und Next?)-Präsidenten, will ich hier gar nicht reden. Es ist zu schmerzlich, live mitzuerleben, wie da brutal herumgetrumpelt wird auf einer historisch wohl unvergleichlichen Person. Frank Sinatra, hätte man ihn nicht zum Schweigen verurteilt, würde wohl das Loblied angestimmt haben: „That’s why the gangster is a Trump!“

Zu viele Ungeheuerlichkeiten sind passiert, seit meine letzte Kolumne sinnlos in den Orkus des Vergessens verflossen ist. Ja, ich bin zutiefst (tiefer geht’s ja nie!) empört über die gnadenlose Männerfeindlichkeit, die in diesen letzten Tagen und Wochen gerade verdienten Mitgliedern meiner maskulinen Gattung entgegenschlägt, und zwar nur deshalb, weil sie Mit-Glied sind.

So wurde zum Beispiel ein hoch verdienter und deshalb auch hoch verdienender spanischer Ober-Macho zum Opfer des feministisch-hysterischen Hasses. Um zu zeigen, dass die Männlichkeit in der Sportwelt noch immer halbwegs rubbelungslos funktioniert, vergriff sich dieser spanische Señor vor aller Fernsehwelt zunächst einmal an sich selber, indem er Hand an sich legte – und zwar handgreiflich voll ans iberische Gemächte. Was verständlich war, denn die Spanier hatten gerade eine Fußball-Weltmeisterschaft gewonnen. Nun ja, auch wenn es schwerfällt, das einzugestehen: Es waren eben keine echten Spanier, sondern Spanierinnen (und zwar ohne einen Gender-Doppelpunkt dazwischen).

Da musste doch wenigstens einer mal zeigen, dass der Fußball nicht zu einer hodenlosen All-Gemeinheit verkommen war. Also zeigte ein Señor Rubiales der Fernsehwelt, dass es noch inmitten dieser Weiberwelt einen Kerl mit „cojones“ gäbe, indem er sich demonstrativ an die eigenen fasste – intensiv an sich selber herum-eiernd.

III.
Okay, diesen fernsehwirksamen Eingriff hätte man ihm vielleicht noch durchgehen lassen. (In Spanien gehört das eben zur maskulinen Folklore: Eine durchaus übliche durchgreifende Maßnahme, um sich vor übergriffigen feministischen Mujeres zumindest symbolisch zu schützen, die manchem Kerl allzu abschreckend erscheinen – obwohl die eiskalte Abschreckung eher eine Methode ist, die man bei Frühstückseiern anwendet.)

Nachdem der Funktionär sich unterleiblich an sich selbst vergrabscht hatte, wollte er zumindest auch oberleiblich den Spielerinnen zeigen, wer hier das Sagen hat – also wer es sich leisten kann, eine kesse Lippe zu riskieren. Das tat er dann auch zugleich schamlos-lippig und sogar doppel-lippig. Er griff eine der wichtigsten Spielerinnen mit beiden Händen am Kopf, sie derart auf ergreifende Weise wehrlos fixierend, und stempelte sie mit seinem begeistertem Lippen-Bekenntnis. Ein sogenannter Kuss, der die Weltpresse seither beschäftigt und sinnlos empört.

IV.
Eine vollkommen unverständliche nachträgliche Erregung, denn nach der vorangegangenen Beschäftigung mit seinen Hoden war er erotisch schon vollkommen abgetörnt. Er habe bei diesem Kuss kein Begehren verspürt, verkündete er später, weshalb es wohl auch zu keiner erzwungenen Penetration kam.

Das Problem war, dass sein Knutschopfer leider ebenfalls null Begehr verspürt hatte, von diesem Ober-Knutscher in diese großmäulige Intim-Szene hinein gezwungen zu werden, die weltweit auf allen Fernsehschirmen lief.

Aber muss man diesen armen Mann deshalb derart schmähen? Was anderes tat er, als seinen Gefühlen mal freien Auslauf zu gewähren.

Dafür, dass diese freilaufenden Gefühle rein bio-mäßig auch mal Eier legen, die als „cojones“ der Güterklasse A zu kennzeichnen sind, sollte man doch zumindest aus ökologischer Sicht dankbar sein. Wenn wir schon ständig von Nachhaltigkeit reden: Was ist wohl nachhaltiger als das ständig eier-produzierende Patriarchat?

V.
Und so kommen wir zu einer anderen öffentlichen Unpersönlichkeit, die derzeit ziemlich hilflos herumeiert (beachten Sie bitte auch in dieser Kolumne die eleganten Übergänge). Ein ober-freier Wähler-Wicht in Bayern muss sich öffentlich verteidigen, weil er a) in seinen etwas älteren Jahren, also vor ein paar Wochen, bei einer Kundgebung die Demokratie mal einfach so durch den Schornstein gejagt hat, auf dass man sie nun vom Winde verweht erfolglos suchen muss – und weil er b) angeblich in seinen jüngeren Jahren deutsche Demokraten, inklusiver einiger versehentlich übrig gebliebener Juden, einfach mal so durch den Schornstein jagen wollte im „Vergnügungspark Auschwitz“.

ANGEBLICH! Ich hoffe, dass Sie das hier verwendete Adverb richtig mitgelesen haben. „Ad-Verb“ bedeutet grammatikalisch, dass man einem Verb, einem Tu-Wort, etwas hinzufügt. „Angeblich“ ist im Klartext der deutschen tausendjährigen Geschichte ein häufig benutztes Beiwort für ein Tu-Wort. Es sollte zeigen, dass wir Deutschen nie mit nichts etwas zu tun hatten. Was immer damals passiert sein soll, das kann gar nicht wirklich passiert sein, weil es nur „angeblich“ passiert ist.

VI.
Ich habe mich dem jüngsten Opfer der deutschen Angeblichkeit, also mit dem Aiwanger Hubert, sofort in Verbindung gesetzt, um ihm meine Experten-Hilfe in Sachen Satire anzubieten.

Die Sache seiner Verteidigung wäre doch so einfach: Dieses fragliche Flugblatt ist fraglos nichts anderes als eine satirische Übertreibung – allein schon, wenn man sich die Hauptgewinne des vermeintlichen Wettbewerbs durchliest: „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz. / Ein lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab. / Ein kostenloser Genickschuss.“

Auf so etwas muss man erst einmal kommen. Da war zweifellos ein satirisches Talent zugange. Eine gnadenlos zugespitzte Witzigkeit. Möglicherweise, gibt es Leute, die das nicht so richtig witzig finden. Aber das sind miesepetrige Gutmenschen, die auch die natürlich nie so gemeinten antisemitischen Freundlichkeiten einer Lisa Eckhart als wenig amüsant empfinden. Oder humorlose Buchholzisten, die schon früher bei der Harald-Schmidt-Show an Polen-gehässigen, rassistischen und misogynen Scherzen keine rechte Freude fanden. Etwa: „Was hat eine emanzipierte Frau mit einer Kloschüssel gemeinsam? Kein Mann tritt nahe genug an sie heran.“ Haha-Harald!

Die allgemeine intellektuelle Begeisterung an diesen Schmidt-Schmuddeleien in den Medien wurde kultig gefeiert. (Immerhin hat Harald Schmidt mit seinen Rechtsaußen-Freunden Matthias Matussek und Hans-Georg Maaßen nun endlich Gesprächspartner gefunden, die ihn auch inhaltlich verstehen.)

VII.
Ich habe mir neulich mal ein altes Programm von mir angehört aus den frühen Jahren nach der Wende, weil ich einen bestimmten Text suchte. „Alle Macht den Doofen“ war der Titel. Darin hatte ich unter anderem das neonationale Schmidteinander vieler Intellektueller zum Thema gemacht. Die Methode der billigen Tabu-Brecherei im Sinne eines scheinbar mutigen „Man-wird-es-doch-wohl-mal-sagen“-Dürfens.

Die Methode hatte Erfolg. Heute kann man fast alles an dumpfdeutschem Schwachsinn vor sich her sabbeln, weil man es ja wohl mal sagen dürfen muss.

Sie können mir glauben. Manchmal habe ich es so was von satt, schon so viel früher recht gehabt zu haben. Glücklicherweise habe ich mich auch gelegentlich geirrt. Ich finde Menschen, die ständig recht haben, nur langweilig. Ich bin mit all meinen Zweifeln gerne auch ein Unrecht-Haber. So bin und bleibe ich ein Un-Rechter, also notgedrungen ein Linker.