Bekenntnisse

Ein Briefchen
nach drüben

Nr. 717 – vom 6. Oktober 2023

Der Tag der deutschen Einheit ist mal wieder in trauter Zwietracht überstanden. Nach letzten Umfragen fühlen sich fast 50 Prozent der östlichen Deutschen nach 33 Einheitsjahren noch immer nicht wirklich eingebürgert, sondern als Bürger zweiter Klasse. Das erinnert mich daran, dass ich als erstklassiger Westmensch schon ein paar Wochen vor der Einheits-Staatlichkeit, eine Kolumne geschrieben habe, genauer: einen offenen Brief an das östliche Deutschenvolk, in dem ich in Kassandra-mässiger Miesmacherei das künftige Ost-Schicksal prophezeit habe. Hier noch einmal der Wortlaut meines Anschreibens.

I.
Berlin, im August 1990
 
Liebes drübiges Volk!
 
Ja, Dich meine ich. Dich östliches Rest-Volk, das für uns West-Volk bislang nur transzendental in irgendeinem Jeseits existierte – eben „jenseits der Mauer“. Du verzeihst hoffentlich die etwas vertrauliche westliche Anschreibe. Aber da auch ich nun für unabsehbare Zeit mit Dir vereint sein werde, will ich es kurz vor der Trauung wagen, schon einmal über den Schmus primae noctis hinauszudenken.

Wobei ich nicht daran denken will, welch inzestuöse Vereinigung uns allen bevorsteht: Schließlich bestehst Du, das drübige Ex-und-hopp-Volk, noch immer aus „unseren Brüdern und Schwestern“. Schon Schiller hängte es an die große Glocke: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ – aber dazu warst Du viel zu ungeduldig, „fickerig“ sagt Dein etwas direkter Volksmund dazu: Es konnte Dir mit der Vereinigung nicht schnell genug gehen.

Das Vorspiel fiel denn auch etwas hektisch aus. Mit der Mauer ließest Du zugleich alle Schamgrenzen fallen. Statt auf dem sozialistischen Lager lümmeltest Du Dich nun erwartungsvoll hingestreckt auf dem west-östlichen Diwan. (Allerdings: »östlich« kann man wohl streichen; das war ja gerade der Sinn der Wende: vom östlichen Iwan zum westlichen Diwan.)

Deine Hingabe war zunächst eine totale. Heute etwas anderes zu behaupten, wäre Kohl. So schnell konnte selbst der die DDR gar nicht übernehmen, wie Du Dich übergeben hast – ihm. Du wirst es noch erfahren: Wenn man sich kollektiv übergibt, heißt das auf deutsch, dass alles zusammen bricht.

Ich rate Dir, verehrtes DDR-Volk, überleg Dir die Sache mit der Hochzeit noch mal. Denk etwas gründlicher drüber nach. Allerdings weiß ich, daß dies der vergeblichste Vorschlag ist, den man einem deutschen Volk, welchem auch immer, machen kann: nämlich den, mal nachzudenken.

Deshalb hat Dir der Kanzler angedroht, daß er mit seinen Gedanken bei Dir ist. So kann niemand hinterher behaupten, Du seist gedankenlos in die gesamtdeutsche Ehe gestolpert. Oder wenn schon gestolpert, dann eben – als zur Zeit noch sogenanntes DDR-Volk – auf Gänsefüßchen. Wohingegen der Kanzler sich auf Freiersfüßen bewegt.

II.
Seine Freiersfüße haben übrigens durchaus etwas mit der versprochenen Freiheit zu tun. „Freiheit“, dieses Hauptwort auf Zeit leitet sich von einem Zeitwort her – nämlich vom alten germanischen Verb: „freien“. Das hieß schon damals so viel wie „um Liebe werben“. Deshalb kennt die Freiheit viele Freier. Der freie Liebesmarkt ist ein Teil der freien Marktwirtschaft, sogar das älteste freie Gewerbe der Welt. Und weil wir im Westen seit jeher ganz frei sind, ist auch jede Steigerungsform möglich. Mit einer Einschränkung: Jeder kann frei sein. Freier kann hingegen nicht jeder sein. Dafür braucht es schon einiges an frei verfügbaren finanziellen Mitteln.

Denk bitte nicht, liebes Ossi-Volk, dass ich die freie Liebe mit Dir propagieren will. Ich meine nur: Im heiratsfähigen Alter solltest Du über gewisse heikle Dinge – wie zum Beispiel über die Freiheit – Bescheid wissen.

Denn was macht ein Freier? Vorher, meine ich. Ganz klar: Ein Freier freit. Dazu gehören allerdings zwei: Einer der freit. Und einer oder meist eine, der oder die gefreit wird. Für die, der gefreit wird, ist es meist hinterher vorbei mit der Freiheit.

Früher, als die Welt noch in alter preußischer Ordnung einherstiefelte, war das alles ganz einfach: Wenn es ein Mann war, der gefreit wurde, wurde er Gefreiter. War's eine Frau, wurde sie schwanger.

Zumindest in der Regel war das so. Das heißt: Bei der Frau mußte die Regel irgendwann aussetzen. Sie war ja eine Bindung eingegangen zwecks späterer Entbindung. Diese Ent-Bindung band sie dann umso fester. Double-bind nennt man das in der modernen Familientherapie. Sowas führt direkt in die Schizophrenie.

Deshalb ist die Ehe auch eine geschlossene Abteilung der Gesellschaft. Eine Ehe wird ja am Anfang nicht etwa eröffnet, sondern gleich geschlossen. Noch heute bedeutet frei sein: ungebunden sein. Der Unfreie ist ein Gebundener. Er war nach altgermanischen Brauch einer, den man nicht freien durfte.

III.
Denn die Unfreien – das waren die Fremden. Die waren schon damals in Germanien unbeliebt, obwohl man sie extra aus der Fremde geholt hatte, damit sie hier arbeiten sollten. Bei den Germanen waren das meist Kriegsgefangene, die dann zu Arbeitssklaven gemacht wurden (wie gesagt, damals – das ist jetzt mindestens schon tausend Jahre her).

Zum Zeichen ihrer Unbeliebtheit, ihrer Unfreiheit also, trugen diese Fremden Ketten. Später, wenn man sicher war, daß sie sich in die Unfreiheit gefügt hatten, trugen sie anstelle der Kette nur noch symbolisch einen Ring – an den Füßen. Erst im Laufe der Zeit rutschte dieser Ring nach oben – an den Finger. Der Ring ist also eine Kennzeichnung, daß man (meist: frau) schon erobert worden ist. Es ist das Zeichen einer Gebundenheit. Das Zeichen eines Bundes.
Wenn zwei sich vereinen, lies: eine Einheit bilden, dann ist es zumindest für einen der Partner aus mit der Freiheit. Die Freiheit wird fast immer eingezogen – zum Bund.

Einheit und Freiheit – das ist schon von der Logik her ein Paar, das miteinander nicht im Bunde sein kann. Das aber ist nicht die Logik des Bundes – und schon gar nicht der Bundespolitik – bei der bevorstehenden Hochzeit zwischen den beiden Deutschlands. (Übrigens ist dies das einzig Praktische daran, wenn zwei Deutschlands sich vereinen; das ist etwa so, wie wenn zwei Müllers heiraten: Zumindest um den Nachnamen gibt es keinen zusätzlichen Ärger.)

Auch beim Ehevertrag zwischen dem Bonner Staat und Deiner ramponierten Republik geht es um's Ökonomische. Und es ist immer der ökonomisch schwächere Partner, dessen Freiheit in der Ehe weniger Platz hat. Schließlich sind wir es im Westen, die die Scheinchen rüberrücken. Der Schein ist es, der die Mittel heiligt. Es ist also eine Scheinehe, die Dir ins ostdeutsche Haus steht.

Dein Lieblings-Kanzler allerdings verkündet überall, es sei eine Liebesheirat. Deshalb redet er  auch immer von seinen „lieben“ Landsleuten, wenn er Dich meint. Damit will er Dir, seinem künftigen Halb-Volk, sagen, daß er Dich hat, und zwar lieb. Soll eigentlich heißen: Er hat Dich! Ja – und lieb auch irgendwie.

IV.
Tscha, verehrtes drübiges Volk! So ist das nun mal mit der Liebe. Das wollte ich Dir nur mal eben geschrieben haben. So kurz vor der Hochzeit kann ein bißchen Aufklärung nicht schaden. Sie kommt sowieso zu spät. Die Trauung steht bevor. Kohl und de Maizière üben schon ihr Duett für die Hochzeitsnacht: „Wer uns getraut?“ Ei sprich, warst Du's?

Wenn einer (oder eine) wem zu früh traut, den (oder die) bestraft oft die eigene Lebensgeschichte. Er (oder meist sie) hat sich bei der Trauung möglicherweise geirrt. Man hat sich also beim Trauen ver-tan. Man hat sich ver-traut.

Ich fürchte schon jetzt, liebes Ostvolk, dass Du mir sehr bald die Ohren vollwimmern wirst ob einer fehlenden Vertrautheit zwischen Ost und West. Von gegenseitigem Verständnis ganz zu schweigen. Aber ich hab Dich gewarnt.

Bis demnächst mal wieder! Paß auf Dich auf!