Bekenntnisse

EIN JUBILÄUM ZUM VERJUBELN

Nr. 723 – vom 24. Mai 2024

EIN JUBILÄUM ZUM VERJUBELN

Ich vermute mal, den meisten von Ihnen, liebwerte Leserinnen, geschätzte Leser, geht es wie mir. Irgendwann ging einem das ganze mediale Dauer-Gedröhns um 75 Jahre Brrrr-D am demokratischen Gesäß vorbei. Und das bei aller Wertschätzung für das grundlegende Gesetzeswerk der vermeintlich unantastbaren Menschenwürde. Das Grundgesetz kam im Jahre 1949 zustande, in einer Zeit, als die Mehrheit der Deutschen noch der Partei der Niemals-Nazi-Gewesenen angehörte. 

Mich wunderte bei all der offiziellen Selbst-Bejubelung im Rahmen dieser Staats-Festivität, dass nur gelegentlich, wenn überhaupt, zur Sprache kam, dass laut Umfrage ein Drittel der Deutschen (Ost) sich bei dieser Jubiläums-Jubelei gar nicht mitgemeint fühlten, zumal sie nicht 75jährig bei dieser Republik dabei waren, sondern besten- oder schlimmstenfalls 34 Jahre – und diese Jahre gaben nicht immer Anlass zum Jubeln. (Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass die meisten der Ex-DDR-Brüder und -Schwestern einst in Zeiten der Wende viel zu früh gejubelt haben und erst später merkten, dass sie sich beim Jubeln ver-tan hatten; kurz: sie hatten sich ver-jubelt.)

Dennoch – zumindest ist das meine Meinung: Man wird gerade nach den Europa-Wahlen, aber gewiss noch viel mehr nach den kommenden Landtagswahlen im Osten wieder heftig zanken und zetern über die Entscheidungen demokratischer Wähler für Parteien, die die Demokratie möglichst schnell abschaffen wollen… aber (mal wieder ein ganz großes ABER): Das Verständnis, also das Verstehen-Wollen und das Mit-Bestimmen eines demokratischen Einverständnisses wäre nach der Wende in jener ostdeutschen Gesellschaft, die demokratisch mehr als ungeübt war, wohl eher geweckt worden, wenn man statt der westlichen Vereinnahmung des Ostens eine neue, gemeinsame deutsch-deutsche Verfassung zur Abstimmung gestellt hätte.

Wahrscheinlich, das vermute ich zumindest, wäre dabei das Grundgesetz als gemeinsame Verfassung von den meisten bestätigt worden – aber auf das Adjektiv „gemeinsam“ kommt es hier an. Das Grundgesetz hätte eine gemeinsame, wenn auch mit Widersprüchen akzeptierte Verfassung werden können. Schade und schlimm, dass es so nicht gekommen ist.

PS. In meinem vor-vorletzten Buch vor fünf Jahren über das Grundgesetz „Die Siebzigjährige, die man zum Fenster hinauswarf“ (leider total vergriffen) habe ich in einem Kapitel ausführlich beschrieben, welche Chance einst vertan wurde, eine neue Verfassung zur Grundlage einer deutschen Gemeinsamkeit zu machen. Hier der Text (nur um fünf Jahreszahlen aktualisiert):

 

 

EINE VERFASSUNG, DIE ES NIE GAB

„Das Grundgesetz, ein Auslaufmodell?“ So fragte „spiegel-online“ vor einiger Zeit. Mal abgesehen davon, dass im Grundgesetz nichts ausläuft, sondern angeblich ausgeht – nämlich „alle Staatsgewalt vom Volke“ –, so steht diese Frage doch im gesamtdeutschen Raume. Der frühere SPD-Chef Franz Müntefering hat sie dort hingestellt. Eine typisch sozialdemokratische Angewohnheit, Fragen in den Raum zu stellen und sie dann dort einfach stehen zu lassen. Raumpfleger Müntefering gab vor fünfzehn Jahren zum 60. Grundgesetz-Jubiläum nachdenklich zu Protokoll: „Bei manchen Ostdeutschen spüre ich Skepsis. Nicht gegenüber den Inhalten des Grundgesetzes, aber sie sagen: ‚Eigentlich war doch vorgesehen, dass es nach der Einheit eine gemeinsam erarbeitete Verfassung gibt, deshalb hat die Bundesrepublik ja nur ein Grundgesetz’. Diese Bürger sagten: ‚Ihr habt uns Euer Grundgesetz einfach übergestülpt, anstatt eine gemeinsame Verfassung zu schaffen.’ Das muss man nun aufarbeiten.“ 

Ja, da staunen Sie, über welche Sensibilität die SPD manchmal verfügt, wenn’s um die empfindsame Ossi-Seele geht. Noch erstaunlicher ist die Erkenntnis des Mister Münte, dass wir eigentlich, also im Grunde genommen, gar keine Verfassung haben. Nun sollte das Grundgesetz ursprünglich auch gar keine richtige Verfassung sein. Im Parlamentarischen Rat wollte man 1949 den Eindruck vermeiden, dass diese westliche Republik schon ein vollständiger Staat sei. Der Rat beteuerte sich in gegenseitiger Rat-Losigkeit unablässig, dass man die Einheit Deutschlands nicht verraten wolle. Zugleich schuf man den westdeutschen Sepa-Rat-Staat. 

Nur zur Erinnerung: Damals, am 23. Mai 1949, gab es noch keinen Staat namens DDR (der wurde erst ein knappes halbes Jahr später am 7. Oktober 1949 gegründet), sondern nur die SBZ, eine sowjetisch besetzte Zone.

Erst nachdem die West-Zonen sich per Grundgesetz als Bundesrepublik offiziell etabliert hatten, kam es zur Gründung des östlichen Deutschlands.

Doch im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz damals erarbeitete, wollte man mehrheitlich die deutsche Einheit und schrieb sie als erstes Einheits-Gebot ganz vorne hinein ins Grundgesetz, im vollen zwiespältigen Wissen, dass dieses Grundgesetz kein Fundament für die Einheit sein konnte, sondern dass man damit die Zweiheit zementierte. Im deutsch-deutschen Familien-Drama wurde es somit zur Grundlage der andauernden pangermanischen Zwiespältigkeit. Doch da nicht sein kann, was nicht sein darf, kam man auf die phantasiereichsten Erklärungen. Die Grundgesetz-Eltern beteuerten immer wieder landauf und landab, dass diese Verfassung die Spaltung gar nicht verfestigen könne, weil sie eigentlich keine richtige Verfassung sei, sondern nur eine uneigentliche, also eine vorübergehend existente – mithin eine provisorische. 

So lehnte die SPD den Ausdruck „Verfassung“ für das Gesetzeswerk auch ab. Der SPD-Vater Carlo Schmid erklärte: „Lebensordnungen dort schaffen, wo man nur ein Provisorium machen will – das geht nicht.“ 

Das Grundgesetz war also als ein Provisorium gedacht. Was ein Provisorium ist, kann Ihnen Ihr Zahnarzt erklären. Es wird immer dann eingesetzt, wenn der endgültige Ersatz noch nicht fertig ist. (Ich weiß das, denn ich halte es in diesem Punkt notgedrungen mit Ost-Karat & West-Maffay: „Über sieben Brücken sollst du gehen.“) Ein Provisorium ist also ein Ersatz für einen Ersatz. Mit so einem Ding muss man vorsichtig umgehen. Richtig demokratisch kraftvoll zubeißen kann man damit nicht. 

Im alten Grundgesetz war das Provisorium festgeschrieben mit dem Grundgedanken, es im Falle einer Wiedervereinigung durch eine gemeinsame Verfassung aller Deutschen zu ersetzen. So stand es klipp und klar in Artikel 146: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt.“ Vierzig Jahre lang hatten wir Alt-Bundesdeutschen also keine Verfassung. Und das wurde jedes Jahr am 23. Mai gefeiert. Keine Verfassung zu haben und sie trotzdem zu feiern – das nennt man Verfassungswirklichkeit. Die Schizophrenie als deutsch-deutscher Maßstab. Das Einzige, was uns Schizo-Germanen schon immer geeint hat, ist der gemeinsame Sprung in der Schüssel. Der germanische Ur-Sprung. 

Nun begab es sich vor bald 35 Jahren, dass sich ein SED-Politbürokrat auf einer internationalen Pressekonferenz total verzettelt hatte, um dann in grenzenloser Geistesverwirrung vor sich hin zu stammeln: „Äh... meiner Kenntnis nach... äh... ist das… äh... sofort… äh... unverzüglich.“ Und mit diesem unverzüglichen Äh-äh-äh begann eine neue Äh-ra für die Deutschen, zumindest im Osten. Aber plötzlich sollte nicht mehr gelten, was vierzig Jahre lang in Artikel 146 als Grundaussage feststand, nämlich, dass bei einer deutschen Vereinigung eine neue deutsche Verfassung zu schaffen wäre. Einige dissidente Ossis legten zwar in gläubiger Naivität, vertrauend auf die bundesdeutsche Grundgesetzestreue, einen Entwurf für eine gemeinsame Verfassung auf den runden Tisch; doch dort liegt dieser Entwurf wohl immer noch. Man hatte ihn links liegen lassen. Keine Partei im Westen nahm ihn wahr – geschweige denn: auf. 

Absonderliche Forderungen wurden darin gestellt: Anerkennung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften! Mehr Bürgerbeteiligung! Schutz vor der datenverarbeitenden Bürokratie! Recht auf Wohnen! Recht auf Arbeit! Soziale Grundrechte! Ist ja klar, dass man so ein Uto-Pipi im Westen nicht ernst nehmen konnte. An einem ganz anderen Tisch hatte inzwischen der damalige Minister für das deutsche Innere, Wolfgang Schäuble, einen Einigungsvertrag ausgehandelt – und zwar mit sich selber. Er hatte sich dabei selbst gegenüber gesessen in Form eines Klons namens Krause. Das entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn in der DDR-Propaganda war ein symbolischer Prolet mit dem Namen „Krause“ stets der Sieger im internationalen Klassenkampf gegen den symbolischen Monopolherren namens „Krupp“. Eine DDR-Fernsehserie trug dann auch den Titel „Krupp und Krause“. 

Im deutschen Einheitsdrama mit dem Titel „Schäuble und Krause“ erwies sich der DDR-Unterhändler Günther Krause allerdings selbst als williges und billiges Vollzugsorgan des bundesdeutschen Vereinigungs-Diktats. Wie sich bald herausstellte, gewann dann im Osten so manches westliche Kruppzeug die Oberhand – genauer: Es gewann die Treuhand. Ost-Betriebe, etwa die gesamte sächsische Textilindustrie, wurden für einen Euro aufgekauft und die Produktion schnurstracks in die westlichen Fabriken verlagert. Die meisten ostdeutschen Angestellten und Arbeiterinnen und Arbeiter, die einst für eine erhoffte Bewegungsfreiheit auf die Straße gegangen waren, saßen nun auf derselben und waren tatsächlich frei – eben: freigesetzt. 

Gregor Gysi, damals noch PDS-Vorsitzender, war einer der wenigen, die gegen den Einheitsvertrag opponierten: „Ich bedaure“, so gab er zu Protokoll, „dass der Einigungsprozess zum Anschluss degradiert worden ist.“ Im ostdeutschen Parlament votierten 299 Abgeordnete, davon viele Angehörige des früheren Nationalen Blocks (also der DDR-CDU und anderen SED-Tarnorganisationen) mit Ja. Die einstigen DDR-Blockflöten hatten sich schnell auf andere Flötentöne eingestellt. Die 80 Nein-Stimmen kamen von der PDS und den Mitgliedern der neugegründeten Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 

So wurden die neuen Länder den alten einfach beigetreten. Der alte Bund wurde um ein paar neue Bundesländer erweitert und die Präambel des Grundgesetzes entsprechend umgeschrieben. Damit hatte sich die Sache mit der Verfassung eigentlich erledigt. Die neue Bundesrepublik tat einfach so, als wäre sie die alte geblieben. Damit blieb denn auch alles beim Alten. Eine grundlegende Neuerung immerhin gab es im Grundgesetz: Der Artikel 146 wurde ersatzlos gestrichen. 

Ersatzlos schon deshalb, weil man sich im Westen an das Provisorium, also an den Ersatz für den Ersatz, im Laufe der Jahrzehnte gewöhnt hatte. Und so kauen wir weiterhin darauf rum. Irgendwann fällt es einem kaum noch auf, dass die Demokratie immer weniger Biss hat. Ein Bisschen reicht schließlich auch.