Sind Nazis eigentlich
eine invasive Spezies?
Nr. 725 – vom 6. Juni 2024
I.
Kürzlich habe ich mal wieder einen Artikel gelesen über irgendwelche invasivenViecher, die sich bei uns ohne eine besondere Einladung einquartiert haben – auch dank eines Klimas, das sich für sie freundlicherweise immer mehr erwärmt. Dabei fällt mir ein: Vor ein paar Nächten hatten wir in unserer erzgebirgischen Datsche Besuch von einem Waschbären, der sich an einer Kiste mit Vogelfutter gütlich tat und sich dabei ohne jede Scheu aus nächster Nähe im Scheinwerfer der Taschenlampe filmen ließ. „Ein putziges Kerlchen“, freute sich eine Freundin über diese Aufnahmen. Nur leider ist dieses putzige Ding auch ein verputzendes Ding: Fast alle Frösche und Kröten und Ringelnattern im nahen Teich hat es ratzefatz weggeputzt. Jedenfalls sind keine mehr zu sehen. Ein befreundeter Jäger hat zugesagt, dass er uns von diesem Putzmännchen befreien will(oder um gendermässig korrekt zu sein: vielleicht war es auch ein Putzfrauchen). Wie er das Putzige entputzen wird, will ich gar nicht wissen.
II.
Allerdings unterliegen nicht alle invasiven Eindringlinge dem ostdeutschen Jagdrecht. Das gilt besonders für rechtsextreme Alternativlinge aus dem Westen, die nach der Wende haufenweise in den Osten einsickerten. Dort, in den verblühenden Landschaften, wo für viele Ex-DDR-Insassen ein blaues Wunder nach dem anderen blühte, glaubten diese radikalen West-Influencer auf eine Klientel, die ihnen im Umgeiste verwandt ist. Leider mit Erfolg. Besonders im östlichen Landvolk, überreichlich vorhanden, hegten viele ein tiefes Misstrauen gegenüber der neuen Demokratie und hatten keine Scheu, gleich bei den ersten Landtagswahlen deutsch-nazional zu wählen. Die Wahlerfolge der Neo- und Alt-Nazis von NPD und DVU in mehreren ostdeutschen Bundesländern waren erschreckend genug.
In Wählerprozenten gemessen schien das damals noch überschaubar – in Sachsen waren es 2004 allerdings schon 9,2 Prozent für die NPD.
Aber dann kam die AfD-Großmäuler, die anfangs noch reichlich Kreide gefressen hatten, um nicht allzu abschreckend zu wirken für etwas empfindliche Gemüter. Und fast alle (ver)führenden AfD-Häuptlinge hatten einen westdeutschen Migrationshintergrund (nebst Häuptlingin Alice, die in den östlichen Gauen ihr neues Wunderland entdeckte).
Zuvor waren diese rechten Figuren in den alten bundesrepublikanischen Zeiten vor dem Mauerfall keinem groß aufgefallen. Ihr politisches Dasein im Westen war eher ein vermickertes Nicht-Vorhandensein – sofern sie nicht wie Gauland in der CDU führend aktiv waren oder wie Björn Höcke bei der „Jungen Union“. (Die Christdemagogie war schon immer ein Durchlauferhitzer für rechts-schaffende Vaterländler. Dieser Erhitzung hält auf Dauer keine Brandmauer stand.)
Was ich noch immer seltsam finde: Die meisten AfD-Wähler im Osten störte es überhaupt nicht, dass die obersten Ossi-Flüsterer dieser Partei fast alles Wessis waren.
Nun hatten etliche Ostdeutsche, die nach der Wende von einer unbarmherzigen westlichen Treuhand ins gesellschaftliche Aus geohrfeigt worden waren, fortan eine nicht ganz unverständliche Anti-Wessi-Phobie kultiviert. Doch die invasiven Rechts-Ausleger aus den okzidentalen Breiten der Alt-BRD waren von diesem Wessi-Bashing (also dem Zurück-Verteilen von Ohrfeigen) nie betroffen.
Sie schrien ihre gehässig-subversiven Parolen, alle Zweifel mit Lautstärke übertönend, viel zu vielen Dumpfdeutschen ins verkrustete deutschnationale Gehör. Sie behämmerten und behämmern die Trommelfelle mit einem schrillen Dauer-Tinitus, so dass die Ohren- und Hirnbetäubten irgendwann total behämmert und maltre(tini)tiert tatsächlich glaubten und glauben, dass der nationale Untergang kurz bevorstehe.
Die Horror-Botschaft der völkischen Beobachter ist immer derselbe: Massen von invasiven Fremdkörpern seien über die germanischen Gauen hergefallen. Der durch eine „Asylantenflut“ herbeigeschwemmte, Kanake (welcher Couleur auch immer) wolle uns in deutschfeindlicher Absicht unablässig rammelnd ins völkische Jenseits ejakulieren. So werde das Biotop der bio-deutschen Gemeinschaft immer mehr „fremdländisch durchmischt und durchrasst“ (das ist allerdings kein originales AfD-Zitat, sonders eines der art-verwandten CSU, als Edmund Stoiber noch das vaterländische Sagen hatte).
Vom heutigen Donnerstag an, da ich dies schreibe, läuft die Europa-Wahl. Am kommenden Sonntag werden auch wir hierzulande einmal mehr und nicht zum letzten Mal erleben und erleiden, wie ein bislang halbwegs demokratisches Europa in die Nähe von Mehrheitsverhältnissen gerät, die das politische Überleben von demokratischen Minderheiten in bedenkliche Gefahr bringen könnten. Und dennoch wird diese Wahl perverserweise eine demokratische Entscheidung sein, auch wenn die Demokratie dabei immer mehr vor die populistischen Hunde geht.
III.
Nun habe ich mich mit invasiven Ereignissen in der deutschen Politik schon früher in dieser Kolumne beschäftigt. In einem Artikel zum 8. Mai 1945 las sich das so:
Immer wieder werden wir Deutschen historisch schwer verleumdet, besonders wenn an bestimmten Jahrestagen wie zum Beispiel am 8. Mai bedenkliche Gedenkreden gegen uns geschwungen werden. Da müssen wir uns dann anhören, dass unser deutsches Volk angeblich mal irgendetwas mit den sogenannten Nazis zu tun gehabt haben soll.
Ich verwende für diese Nazis bewusst das Beiwort „sogenannte“. Denn bis heute weiß doch keiner, wer diese Nazis überhaupt waren und woher sie gekommen sind. Denn eigentlich ist das ein „brauner Spuk“ gewesen: Offenbar war diese gespenstische Erscheinung eine unheimliche Begegnung der dritten Art im Dritten Reich. Da sind wohl damals irgendwelche Aliens aus den Tiefen des Raumes auf der Erde gelandet – und die hießen eben nicht Klingonen, sondern Nazis. Blöderweise sind die nun ausgerechnet in Deutschland gelandet. Und dann haben sie hier – übermächtig wie sie waren – die Macht ergriffen und haben eine Zeit lang mit der Macht rumgemacht. Und eines schönen Maientages waren sie plötzlich alle wieder spurlos verschwunden. Up, up and away! Am 9. Mai 1945 gab es auf einmal keinen einzigen Nazi mehr in Deutschland. Das ist zumindest der Stand der deutschen Familienforschung.
Erst hinterher hat sich herausgestellt, wie schwer das deutsche Volk unter diesen Nazis gelitten hat. Wir Deutschen waren doch die wahren Opfer dieser Nazi-Herrschaft. Ständig wurde das Volk angebrüllt: „Deutschland erwache!“ – oder im Sportpalast angegoebbelt: „Nun Volk, steh auf und Sturm brich los!“ Und irgendwann war ein großer Teil des deutschen Volkes diese dauernde Aufwacherei und Aufsteherei satt. Allein über fünf Millionen Soldaten streikten gegen die Nazis, indem sie einfach liegenblieben. Allerdings konnten sie auch nicht mehr aufstehen, da sie unter der Erde lagen. Das nennt man passiven Widerstand.
Und gegen diesen Widerstand kamen die Nazis nicht mehr an. Und so haben sie sich klammheimlich über Nacht alle am 8. Mai 1945 aus dem Erdenstaub gemacht. So hat sich damals das deutsche Volk von den Nazis befreit – durch jahrelangen erbitterten Widerstandskampf.
Aber davon redet ja keiner bei diesen Gedenkfeiern. Deshalb habe ich es hier nachgeholt.
IV.
Zuletzt noch eine traurige Nachricht für Menschen, die sich noch an uralte linke Zeiten erinnern können. Ein Freund ist gestorben: Rainer Hachfeld, 85 Jahre alt. In der einstigen APO-Postille, dem Berliner Extra-Dienst (1967 bis 1978), war er als Karikaturist mit seinen kommentierenden Vignetten unübertroffen. Ich, der ich an jeder Formulierung in meinen Artikeln lange herumfriemele, fand es faszinierend, wie er die beim Umbruch der Zeitschrift nicht immer sinnvoll entstandenen Lücken im Text, innerhalb von Minuten mit seinen Zeichnungen überraschend treffend füllte. Zusammen haben wir damals ein „Rattenbuch“ für unseren Nachwuchs herausgebracht, ein kinderverhunzendes Machwerk mit zweifelhaften Reimen von mir und nicht minder dubiosen Cartoons von Rainer. Er hat später auch Plakate für mich gezeichnet und den Buchtitel für mein Nach-Wende-Buch „Wir sind, was volkt“ – in weiser Voraussicht mit lauter reaktionären Ärschen.
Er starb ohne größere Quälereien. Er fiel hin und war tot. „Ein schöner Tod“, wie man so sagt. Schöner wäre gewesen, zumindest für uns, seine noch halbwegs lebendigen Freundinnen und Freunde, er hätte länger gelebt.
Nun bin ich der letzte Überlebende aus diesen einst wilden, toll verrückten Extra-Dienst-Zeiten. Und ich habe vor, noch lange am Überleben zu bleiben.
In diesem optimistischen Sinne grüße ich Sie herzlich und hirnlich,
Ihr Martin Buchholz
PS. Nächste Auftrittstermine:
Am Donnerstag, 5. September, im Hamburger „Lustspielhaus“. Tel. 040 555 6 555 6
Am Freitag, 27. September, in der Dresdener Herkuleskeule, Tel. 0351 49255
Am Sonntag, 27. Oktober, auf Mallorca im „C'an Gats“, dem alten Stadtpalast von Llucmajor, Tel. 0171 3354312
Und am 1. sowie 8. Dezember bei den „Wühlmäusen“ in Berlin. Tel. 030 30 67 30 11